Musiktheorie und Werkanalyse in der Musikalischen Erwachsenenbildung 255 schieht,26 erklärt sich das Bedürfnis, Musik nicht nur wahrzunehmen oder auszu-üben, sondern auch im eigenen ›Inneren‹ zu verstehen, wenn Musik zum positiven Erlebnisfaktor wird. Dieser Wunsch lässt sich als Vertiefung der Bedeutung von Musik verstehen, wie sie der Erwachsenenpädagoge Wolfgang Müller-Commichau in seinem philosophisch-pädagogischen Konzept » vom guten Leben « begreift, in-dem » das Erleben von Schönheit letztlich die Wahrnehmung von Musik « akzentuie-re. » In der Verschmelzung von Ich und Musik « werde » das ästhetische Erleben zu einem Teil des Selbst. Zumeist ist es nur von kurzer Dauer, aber oft von nachhalti-ger Wirkung – verbunden mit dem Wunsch, das intensive Erleben baldmöglichst zu wiederholen « 27 oder eben in seiner Machart zu durchdringen, was erweiterte Inten-sität bedeuten kann. Hier tritt die o. g. dialektische Dimension von Gefühl und Ver-stand bei der Einlassung auf jede Musik erneut zu Tage, die bis in die Anfänge der abendländischen Kulturgeschichte zurückreicht. Dies kulminiert, wie geschildert, unter philosophischem und theologischem Einfluss im Satz des Augustinus » Musi-ca est bene modulandi scientia « 28 und führt über theozentrische, aufklärerische, bürgerliche und demokratische Bildungsprinzipien unmittelbar zur heutigen multi-kulturellen Situation lebensbegleitenden Musiklernens. Hinzu kommen bei älteren Menschen außermusikalische Kriterien wie die Hilfe zur » emotionalen Bewältigung des Alters « 29 oder die über alle Lebensphasen verteilten sozialen und emotionalen Aspekte des » seelischen Ausgleichs und der Entspannung, der Steigerung des Wohlbefindens und der Lebenshilfe « .30 Angesichts einer Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten und entsprechend generationenbezogener Kohortenbildung finden sich hier breit gefächerte Erwartungen.31 Diesem Idealbewusstsein gelingenden mensch-lichen Lebens im ästhetischen Sinn des » Wahren, Schönen, Guten « steht im dialek-tischen Verhältnis die musiktheoretisch ebenso erklärbare Musik gleichberechtigt gegenüber, die die Schattenseiten menschlichen Lebens (Krieg, Tod, Trauer, Sehn-sucht, Hass, Wahnsinn u. a. m.) nachzeichnet.32 Ähnlich dem ›sich-von-der-Seele-Schreiben‹ ermöglichen bestimmte musikalische Parameter die Verarbeitung negativer Erlebnisse oder seelischer Belastungen. Ein ganzer Berufszweig, die Mu-siktherapie, gründet auch auf diesen Möglichkeiten. Aber auch ohne gezielte thera-peutische Absicht begleitet Musik die Lebensjahrzehnte vom jungen Erwachsenen-alter bis zum Ende des Lebens bewusst oder unbewusst in vielfältiger, kontinuier-licher und / oder sich verändernder Weise. Vorliegende Arbeiten zur Musikgerago-26 Wolfgang Müller-Commichau: Lebenskunst lernen. Annäherung an eine Pädagogik des Zulassens, Baltmannsweiler 2007, S. 11.27 Ebd., S. 39.28 Augustinus: De musica I, 2, Paderborn, 3. Aufl. 1962, S. 6.29 Gembris: Musik im Alter, S. 97 (s. Anm. 13).30 Ebd., S. 115.31 Verschiedene Ansätze zur Generationen- und Kohortenbildung finden sich bei Jochen Kade: Genera-tionenbildung – das Miteinander lernen, in: Erstes, zweites, drittes Lebensalter. Perspektiven der Ge-nerationenarbeit, hrsg. von Wolfgang Walter, Marburg 1999, S. 62–69 sowie bei Mike Martin und Matthias Kliegel: Psychologische Grundlagen der Gerontologie, Stuttgart 2005, S. 26f.32 Vgl. Albert: Harmonie, S. 20–25 (s. Anm. 4).