282 Ildikó Keikutt-Licht deutlich, so zum Beispiel dem Streichquartett Nr. 1, einer Auftragsarbeit für das Ar-ditti Quartett, oder den Kompositionen im Madrigalstil für das Hilliard Ensemble. Im Gegensatz zu den Werken des Experimentalismus haben seine späteren Kompo-sitionen, deren Reiz in der Auseinandersetzung mit konventionelleren Formen liegt, regelmäßig einen Platz in den Konzertprogrammen. Doch Bryars verliert sich nicht in der musikgeschichtlichen Vergangenheit:Ich kann mich problemlos zwischen den verschiedenen kulturellen Epochen hin und her bewegen. Wenn ich mit Spezialisten für Alte Musik, wie dem Hilliard Ensemble arbeite und Musik rauskommt, die sich nach dem 12. oder 13. Jahrhundert anhört, bin ich mir trotzdem immer der 7 Jahrhunderte be-wusst, die uns von damals trennen.2 Innerhalb von Bryars' Werk hat die Auseinandersetzung mit dem musikalischen Erbe selbst schon eine lange Entwicklung hinter sich. In seinen frühen Werken, de-ren prominenteste Beispiele » The Sinking of the Titanic « (1969) und » Jesus' Blood Never Failed Me Yet « (1971) darstellen, beginnt der Dialog mit Vergangenem. Die Einbeziehung von Vergangenheit in Bryars' Kompositionen findet dabei nicht rein auf musikalischer Ebene statt, sondern stellt ein komplexes Konstrukt aus musika-lischer, geschichtlicher, persönlicher und oftmals auch literarischer Überlieferung dar. Die einzelnen inhaltsgeladenen Schichten offenbaren sich dem Hörer nie voll-ständig, sondern vermitteln ihm lediglich eine Ahnung eines ›großen Ganzen‹. Da-her scheint die Formulierung Andrew Hugill Thomsons, der nicht von Vergange-nem oder Tradition, sondern von Erinnerung spricht, in diesem Zusammenhang be-sonders treffend. In der Erinnerung verklären sich häufig Begebenheiten, werden unpräzise oder werden mit aus anderen Quellen erfahrenen Details unbewusst an-gereichert. Über die ›Erinnerung‹ als Schlüsselmoment Bryarscher Komposition ver-weist Thomson auf die damit verbundene Sentimentalität, die bei ihm aber nicht in pure Nostalgie abgleitet. Memory constitutes one of the main themes of Bryars’s work, whether it be collective memory (» The Sinking of the Titanic « , » The Invention of Tra-dition « ), personal memory (» Jesus’ Blood Never Failed Me Yet « , » Cadman Re-quiem « ) or myth (» Medea « ). Although some of this treatment of memory includes sentiment or sentimentality, there is little trace of nostalgia and it is this more than anything which sets Bryras apart from other ›established‹ com-posers of tonal music, whether they be converted avant-gardists or simply ungenerated traditionalists.3 2 Gavin Bryras in: Andreas Skipis: Klänge zum Untergang der Titanic, Hessischer Rundfunk 2000, 14:14.3 Andrew Hugill Thomson: The Apprentice in the Sun: an Introduction to the Music of Gavin Bryars, in: The Musical Times 130 (1989), Nr. 1762, S. 724–728, hier S. 724.