Gavin Bryars, ein untergehendes Schiff und Jesu Blut 283 Gleich der Komplexität von Erinnerungen präsentieren sich Bryars Werke als kunst-volle, vielschichtige Gebilde. Den Ausgangspunkt einer Komposition stellt eine ›Idee‹ dar, die Einfluss auf die gesamte Struktur des Stückes nimmt. So lassen sich alle musikalischen Ereignisse auf diese grundlegende Idee zurückführen und haben somit ihre Berechtigung. Diese Konzeption seiner Werke verweist auf das Gedan-kengut von Marcel Duchamp und der nachfolgenden Conceptual Art.Einen besonderen Stellenwert für Duchamp wie auch für Bryars nimmt der Be-trachter bzw. der Hörer ein. Dieser stellt die Verbindung zur ›Außenwelt‹ her. Er in-terpretiert und bewertet das Kunstwerk und vervollständigt durch seinen Beitrag den künstlerischen Akt: » All in all, the creative act is not performed by the artist alone; the spectator brings the work in contact with the external world by deciphe-ring and interpreting its inner qualification and thus adds his contribution to the creative act.« 4 Das Erfassen durch ein Publikum ist für das Kunstwerk, dessen letzt-liche Gestalt auch der Künstler nicht vorhersehen kann, demnach von größter Be-deutung. Er gibt oftmals unbewusst einen Ausdruck in sein Werk hinein, der nicht von vornherein bewusst intendiert war. So lebt, nach Duchamp, das Kunstwerk in einer Differenz zwischen Intention und Realisation.Auf Bryars Werk bezogen bedeutet das, dass es für den Hörer nicht entschei-dend und oftmals auch nicht möglich ist, alle Metaebenen zu erfassen. Das Werk ist vielmehr, so betont Bryars, auf die jeweilige Wahrnehmung des Hörers angewiesen: Ein Musikstück, wie jedes andere Kunstwerk auch, existiert, meiner Meinung nach, überhaupt nicht, wenn es kein Publikum hat. Diese These vertritt auch Marcel Duchamp in seinem Vortrag Der schöpferische Akt. Das Kunstwerk braucht für seine Existenz den Betrachter oder den Hörer. Erst durch Wahr-nehmung beginnt es zu leben.5 Bryars konfrontiert folglich mit seinem Werk, besonders mit seinen frühen Kompo-sitionen, vergangene Wahrnehmung in Form von Erinnerung und gegenwärtige Wahrnehmung durch den Hörer.Sehr deutlich wird dieses Anliegen in » The Sinking of the Titanic « . Bekannt wur-de das Stück durch seine Uraufführung 1972 in der Queen Elizabeth Hall in Lon-don, vor allem aber durch eine Schallplattenversion von 1975, produziert für Brian Enos Label Obscure. Die Komposition ist über vierzig Jahre nach ihrer Entstehung offiziell noch immer in Bearbeitung. » In any case the piece has always been an open one, being based on data about the disaster but taking account of any new informa-tion that came to hand after the initial writing.« 6 So integriert eine 1994 auf CD ver-öffentlichte Version des Stücks neuartige Klangmomente von vorangegangenen Aufführungen. » This new recording includes elements taken from performances in 4 Marcel Duchamp: Session on the Creative Act. Convention of the American Federation of Arts, Hou-ston (Texas) April 1957.5 Gavin Bryars in: Andreas Skipis: Klänge zum Untergang der Titanic, 09:13 (s. Anm. 2).6 Gavin Bryars: Begleittext zur CD » The Sinking of the Titanic « , Point 446-061-2 (1994).