286 Ildikó Keikutt-Licht bar durch den Hymnensatz, » Jesus' Blood Never Failed Me Yet « mehr durch den Text in die christliche Kirchenmusik ein. Die im Zentrum von » The Sinking of the Titanic « stehende Hymne wird sehr frei in Tempo und Ausdruck vorgetragen. Endnoten einzelner Phrasen werden zu Fer-maten ausgedehnt, sodass durch ihr langes Erklingen das ursprünglich gleichmäßi-ge Metrum der Hymne aufgehoben wird. Gemeinsam mit dem intensiven Vibrato der Streicher entsteht der Eindruck, als würde sich der Klang in den Weiten des Meeres ausbreiten. Auf der Grundlage der Vorstellung, die Hymne sei gemeinsam mit dem Schiff ›gesunken‹, erklinge aber fortan bis zur Bergung des Wracks am Meeresgrund, ist es Bryars Intention, wie Lovisa detailliert darlegt, die Einflüsse des Wassers auf die Streicherklänge darzustellen. Bryars geht nun davon aus, dass das Stück auf seiner Reise durch den Atlantik verschiedenen Veränderungen – etwa durch Wasser- und Druckverhältnisse, Erosionen und Reflexionen über und unter der Meeresoberfläche – unterliege, sich andererseits im Innern des Schiffs auf dem Meeresgrund eher erhalten habe. Darüber hinaus denkt Bryars ebenfalls an eine eventuelle Bergung des Wracks. Werde die Titanic geborgen, kämen damit auch wieder die mit ihr in die Tiefe gerissenen Klänge an die Oberfläche und erschienen in ihrem ur -sprünglichen Zustand, befreit vom Einfluss des Wasserdrucks.14 Mit dieser ästhetischen Konzeption des Stückes ist auch die formale musikalische Struktur bestimmt. Im Mittelpunkt steht die Hymne, auf die andere Klänge und Ge-räusche – symbolisch für die Einflüsse des Meeres – einwirken. Beim ersten Auftre-ten wird die Hymne deutlich hörbar, lediglich mit Perkussion unterlegt und zeit-weilig durch perkussive Einschübe unterbrochen, exponiert. Doch bereits hier wird offensichtlich, wie sehr es Bryars versteht, eine räumliche, beinahe filmische Musik zu schaffen. Der weiche gedämpfte Streicherton sowie die naturnahe Nachahmung von Wasserrauschen mittels Perkussion entführen den Hörer unweigerlich in eine Unterwasserwelt und somit in die Sphären eines mystischen, von Bryars konstruier-ten Orts. Im Fortlauf des Stückes wird die Hymne immer mehr durch Geräusche, zusätzliches Klangmaterial sowie Sprachfetzen des Interviews mit der Überleben-den Eva Hart um- und überlagert. Die um die Hymne gruppierten Geräusche geben Atmosphäre, schaffen Räume und Ebenen. Durch das Hinzutreten dieser kontra-punktierenden Klänge und Geräusche wird die Hymne stets in ein neues räum-liches Umfeld gerückt. Allmählich wie phasenweise werden diese [Hymnenklänge] abgelöst und kon-trapunktiert von Bläsern über bordunartigen tiefen Haltenoten. ›Schräge‹ Ne-bennoten, Einschübe des Interviews, eine Spieldose, choralartige Klaviermoti -ve treten stellenweise hinzu. Es entsteht ein klangintensives und suggestives Gesamtbild, das die Phantasie des Hörers in eine weit entfernte Welt zu ent-14 Fabian Lovisa: minimal music, S. 144 (s. Anm. 10).