290 Ildikó Keikutt-Licht Septimen, aber auch anderen Intervallen, sollen Kadenzschwerpunkte vermieden und dem Satz ein zielgerichteter Charakter genommen werden. Die harmonische Struktur darf tonal nicht in sich geschlossen sein, da sie gleich einer Bandschleife ›unmerklich‹ an ihren Anfang anschließen soll.Es geht Bryars um die Entwicklung einer flächigen, horizontal ausgerichteten Begleitung. Darin ist die Harmonik insofern wichtig, als dass sie sich der Melodie des alten Mannes anpasst. Die Harmonien ergeben sich aus der feststehenden Into-nation des Gesanges. Durch diese Anpassung an den Gesang wird ein harmonischer Gesamtklang ermöglicht. Die Harmonik spielt aber insgesamt eine untergeordnete Rolle, da das Augenmerk nicht auf einem vertikal akzentuierten Akkordwechsel, sondern auf der Entfaltung einer ›flächigen Tonalität‹ liegt. Dies gelingt Bryars ins-besondere durch Harmoniewechsel mit minimalen Tonänderungen. So bleiben in den Takten mit dominierend übergebundenen Noten gleiche Töne eines Akkordes stets liegen. Zusätzlich erklingen alle Töne weiter, die nicht zu schärfsten Dissonan-zen führen. Zudem pendelt die Harmonik, wie bereits erwähnt, in den ersten und letzten vier Takten zwischen nur zwei Akkorden, h-Moll7 und E-Dur7 bzw. H-Dur7 und E-Dur7. Dadurch ist nur wenig Änderung im Tonmaterial gegeben, sodass die Stimmen, soweit sie nicht ohnehin nur einen einzigen Ton aushalten, eine pendeln-de Bewegung ausführen. Dem flächigen Klang der Begleitung geben lediglich die im Pizzicato gespielte zweite Bassstimme sowie die gebrochene Akkorde zupfende Gitarre einen vertika-len Impuls. Nichts in diesem Satz fällt klanglich heraus. Nichts ist besonders ver-schnörkelt. Alles strebt nach maximaler Homogenität. Einzig Takt 8, der zweimal vorhanden ist und der bei jedem zweiten Durchspiel in seiner schlichteren Variante zu spielen ist, entwickelt durch eine chromatische Wendung von der Mollterz in cis zur Durterz in Cis in einigen Stimmen einen eigentümlich rührenden Ausdruck. Die eingängige Melodie des Liedes erreicht an dieser Stelle ihren Höhepunkt, den auch der alte Mann mit seinem Gesang auskostet. Wird die chromatische Wendung into-niert, verstärkt sich dieser Höhepunkt in seiner ›Dramatik‹ und bereitet eingängiger den Abschluss der Gesangsphrase vor. Mit dem Wechsel der zwei Varianten von Takt 8 ergibt sich zusätzlich zu den immer neu hinzukommenden Klangfarben eine Veränderung, die den Hörer immer wieder aufhorchen lässt. Durch die schlichte Tonalität und die besonders in Takt 8 eindringlichen Wen-dungen des getragenen Satzes zusammen mit der eindringlichen Stimme des Ob-dachlosen wird, wie auch durch die Hymne in » The Sinking of the Titanic « , unwei -gerlich Sentimentalität vermittelt. Bryars ist sich dieser Wirkung seiner Musik be-wusst und sieht sie unter anderem als Merkmal, das seine Musik hervorhebt: » Mit der Sentimentalität hat die zeitgenössische Musik wohl die größten Schwierigkeiten. Man hält diese Gefühlsebene einfach für sehr gefährlich.« 18 Die Angst vor Senti-mentalität, die Bryars anspricht, liegt wohl darin begründet, dass das Bedienen die-18 Gavin Bryras in: Andreas Skipis: Klänge zum Untergang der Titanic, 29:03 (s. Anm. 2).