Gavin Bryars, ein untergehendes Schiff und Jesu Blut 291 ser Gefühlsebene stets das Risiko birgt, dass ein Werk in musikalischen Kitsch ab-gleitet. Obgleich in den zwei thematisierten Kompositionen Bryars' sentimentale Reize vollständig ausgeschöpft werden, » The Sinking of the Titanic « spielt sogar mit der Erinnerung an vergangene Zeiten, gelingt der Musik die Gratwanderung zwischen Kunst und Kitsch. Die Kombination aus sentimentale Rührungen bedienender To-nalität und bewegenden außermusikalischen Metaebenen mit dem leicht statischen und kühlen Ausdruck minimalistischer Musik verhindern ein Umkippen in Nostal-gie oder Kitsch. Die isolierte Stellung der ›historischen‹ Klangquelle sowie ihre steti-ge Wiederkehr relativieren ihre rührende Wirkung. Die in » Jesus' Blood Never Failed Me Yet « zunächst befremdlich klingende Stim-me des alten Mannes wird mit jedem Rotieren der Bandschleife vertrauter, entfaltet schließlich mit dem Hinzutreten der akkordischen Begleitung eine sentimental er-greifende Faszination, die sich aber über die endlos wirkende Dauer des Stücks in eine unterschwellige Ergriffenheit wandelt. Bryars verstärkt in seiner Komposition den meditativen Aspekt der Minimal Music. Er wählt bewusst eingängiges und in langsamem Tempo vorgetragenes musikalisches Material, das zwar dem Hörer zu-nächst eine erhöhte Aufmerksamkeit abverlangt, dann jedoch sehr schnell seine be-ruhigende Wirkung entwickelt. In der 1993 entstandenen CD-Einspielung verwischt Bryars ein Stück weit dieses Prinzip, indem er durch die ›bombastische‹ Erweiterung des Begleitinstrumenta-riums (Chor und den zusätzlichen Gesangspart Tom Waits eingeschlossen) den ru-higen Fluss der Musik durch stetig neue, dominierende klangliche Reize aufhält. Die erweiterte Version des Stücks scheint mehr mit dem Prinzip der Variation, denn mit dem Phänomen von statischer, dennoch klanglich reizvoller Wiederkehr zu spielen. Eines der wichtigen Merkmale Bryarscher Musik auch nach seinem kompositorisch-stilistischen Wandel seit seiner Oper » Medea « ist die Tonalität. Bryars grenzt sich damit bewusst ab: Die Vorstellung, dass sich die Musik nach Wagner wie selbstverständlich wei-ter zu Schönbergs Zwölftonmusik und dann zu anderen atonalen Komposi-tionsverfahren entwickelt hat, suggeriert eine Zwangsläufigkeit, so als sei kein Abweichen von diesem Weg möglich, als stelle es einen Rückschritt dar, am Ende unseres Jahrhunderts wieder tonal zu komponieren. Das halte ich für eine Verzerrung musikalischer Zusammenhänge.19 Bezogen auf die beiden oben betrachteten Kompositionen gelangt Bryars zu einem individuellen Umgang mit Tonalität und ihrer Wirkung innerhalb eines Stücks. To-nalität wirkt historisierend, indem eine Hymne bzw. ein religiöses Lied als Aus-gangsquelle genutzt werden. Ferner liegt der Schwerpunkt nicht auf komplizierten 19 Gavin Bryras in: Andreas Skipis: Klänge zum Untergang der Titanic, 27:24 (s. Anm. 3).