294 Christoph Louven lischen Avantgarde und den Bedürfnissen einer von diesen Entwicklungen ausge-schlossenen Arbeiterklasse.Henze hat das Werk während seines Aufenthaltes auf Kuba 1969 in Havanna komponiert. Dieser Entstehungsort fokussiert die vielfältigen Bezüge und Ansprü-che, die Henze an sein Stück stellt. In einem Gespräch mit Ursula Stürzbecher aus dem Jahr 1971 nimmt er zur Wirksamkeit seiner Musik in der Arbeiterklasse wie folgt Stellung:Ich stelle mir meine Hörer so deutlich wie möglich vor Augen. […] Beim Schreiben dieser Sinfonie [war] das Publikum, das ich mir vorzustellen hatte, das Konzertpublikum von Habana […] Das besteht hauptsächlich aus Studen-ten, Söhnen von Bauern und Arbeitern, die jetzt zum ersten mal lernen, ihr Ta-lent zu entwickeln, die zu denkenden Menschen werden, die Kriterien gewin-nen und über sich selbst Klarheit bekommen. Ihretwegen habe ich mich beson-ders angestrengt. Die Sinfonie bedeutet für mich das Durchbrechen in eine neue Welt von Musikdenken.2 2 Zur Gesamtanlage der Sinfonie Henze sieht in seiner Sechsten Sinfonie eine neue Welt von Musikdenken verwirklicht. Wie jedoch sieht die konkrete musikalische Ausformung dieses neuen Musikden-kens aus, wo ist es, quasi kristallisiert in der Partitur, in der musikalischen Substanz auszumachen? An anderer Stelle im Gespräch mit Ursula Stürzbecher gibt Henze folgenden Hinweis:Dieses Stück ›handelt‹ von allen Ländern der dritten Welt und von unserem gestörten, problematischen Verhältnis zu ihnen und zu ihrer Kultur. Ich baute ein Lied der Nationalen Befreiungsfront in Vietnam ein, » Sterne in der Nacht « , ebenso ein Lied von Theodorakis, dem Führer der griechischen Jugendorgani -sation Lambrakis, das er im Gefängnis komponiert hat: die Freiheitshymne. Im dritten Teil werden kubanische Nationalrhythmen zitiert.3 Hier wird deutlich, dass es Henze wirklich darum geht, eine » Revolutionssinfonie « zu komponieren. Allerdings ist damit noch nicht mehr gesagt, als dass er an einigen Stellen entsprechende musikalische Zitate verwendet. Eine grundlegend neue Dis-position der musikalischen Faktur auf Fasslichkeit und formale Transparenz hin, die über das bloße naive Einbetten folkloristischer Elemente in einen komplexen Satz hinausgeht, ist damit aber noch nicht angezeigt. Die Frage, ob und wie dies Henze dennoch gelingt, wird Gegenstand der weiteren Überlegungen sein. Neben der Fra-2 Hans Werner Henze: Werkstattgespräch. Aus einem Gespräch mit Ursula Stürzbecher, in: Hans Wer-ner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984, München 1984, S. 177.3 Ebd., S. 176f.