Die 6. Sinfonie von Hans Werner Henze 295 ge, wie sich der revolutionäre Anspruch in der Substanz der Musik verwirklicht, wirft das Stück eine zweite, unter dem Blickwinkel der formalen Analyse besonders spannende Frage auf: Muss es nicht als Kontradiktion (oder will es gar als Provoka-tion) erscheinen, dass Henze dieses revolutionär motivierte Werk ausgerechnet in die Tradition der Paradegattung des bürgerlichen Konzertbetriebs stellt? Welches Verhältnis hat demnach dieses als ›Sinfonie‹ bezeichnete Werk zur gattungsge-schichtlich begründeten formalen Tradition, insbesondere zur Sonatenhauptsatz-form im Kopfsatz? Oder äußert sich diese scheinbare Widersprüchlichkeit vielleicht in einer bewussten Abkehr von überkommenen Traditionen oder in einem ironi-schen Spiel mit den Erwartungen der Hörer, wie bei György Ligetis sieben Jahre äl-terem » poème symphonique « für 100 Metronome? Hat also Peter Petersen mit sei-ner Einschätzung aus dem Jahr 1988 recht, wenn er meint:» Es werden nicht die traditionellen Formen aufgenommen (wie in den frühe-ren Sinfonien); anstelle der Themen und Motive treten frei gestaltete Aktionen der beiden Orchesterkollektive.« 4 2.1 Die Besetzung Aus der Äußerung Petersens geht ein wesentliches Merkmal der Sinfonie hervor. Während die ersten fünf Sinfonien für ein zwar groß besetztes, dennoch aber ›nor-males‹ Sinfonieorchester komponiert sind (einige kleine Besonderheiten, wie etwa das Fehlen der Klarinetten in der 5. Sinfonie, ändern hieran im Prinzip nichts), ist die sechste Sinfonie für zwei Kammerorchester geschrieben. Die Verwendung eines eher kammermusikalischen Klangkörpers für ein symphonisches Werk wäre an sich noch nichts Ungewöhnliches. Nach den, etwa bei Mahler, bis ins Riesenhafte ange-wachsenen Besetzungen, die den Gipfelpunkt einer stetig fortschreitenden Entwick-lung hin zu größeren Orchestern markieren, hat es in der ersten Hälfte des Jahrhun-derts eine deutliche Abkehr von dieser Tendenz und eine Hinwendung zu kleineren Besetzungen gegeben, man denke etwa an Schönbergs » Kammersinfonie « .Die Verwendung zweier unabhängiger Klangkörper bei Henze ist jedoch ein eher ungewöhnliches Faktum, obwohl er hier auf dem Gebiet der Sinfonik auch nicht al-leine dasteht, man denke an die » Sinfonia for Two Orchestras « aus dem Jahr 1959 von Ian Hamilton.4 Peter Petersen: Hans Werner Henze. Ein politischer Musiker. Zwölf Vorlesungen, Hamburg 1988, S. 200.