298 Christoph Louven wirkung ebenso gut durch die entsprechende Aufstellung eines großen Orchesters realisiert werden können. Untersucht man die Partitur unter diesem Gesichtspunkt, so fällt zunächst auf, dass Henze auf die konventionellen Implikationen einer Dop-pelchörigkeit weitestgehend verzichtet. Es gibt weder ein ausgeprägtes Spiel mit Imitationen oder Echowirkungen (man denke zum Vergleich etwa an die mehrchö-rigen Werke von Heinrich Schütz), noch ausgedehnte, auf Raumwirkung zielende Passagen, noch ein dialogähnliches Wechselspiel unterschiedlich ausgeprägter Ges-tiken. Zwar findet man markante Beispiele für imitatorische Verfahren z. B. bereits auf der ersten Partiturseite, auf der das erste Orchester das vom zweiten Orchester vorgegebene, jeweils ein Achtel verschobene Einfallen der einzelnen Streicher in ein Unisono-G imitiert; zwar findet man, etwa im gesamten Abschnitt nach B (S. 18f.) zwischen den Horngruppen und den Streichern beider Orchester eine um ein Vier-tel verschobene Imitation – eine essentielle Bedeutung hat hierbei die Doppelchörig-keit aber nicht, der Satz wäre genauso innerhalb eines einzelnen Orchesters vorstell-bar. An den meisten Stellen jedoch, etwa auf S. 16 oder auf S. 20, ist quasi über die Orchestergrenzen hinweg komponiert: beide Gruppen bewegen sich mit derselben Gestik, arbeiten am selben Material, ergänzen sich, wirken eher als Einheit. Der Ge-samtgestus der einzelnen Abschnitte (s. u.) wird durch die Existenz der beiden Or-chester nicht gebrochen. Für eine formale Analyse ergibt sich aus diesen Überlegungen vor allem eine wichtige Folgerung: Es scheint nicht so zu sein, dass Henze durch die Wahl eines doppelten Klangkörpers eine weitere Ebene zur Realisierung des dualen Prinzips gewinnen wollte, das ein wesentliches Merkmal gerade der Sonatenhauptsatzform im Kopfsatz der klassischen Sinfonie darstellt. Die zunächst plausibel erscheinende und im Hinblick auf die Tradition vielleicht auch naheliegende These, dass die Exis-tenz zweier Orchester bereits darauf hindeuten könnte, dass Henze das duale Prin-zip zum Grundprinzip seiner Sinfonie macht, dass also die Sinfonie bereits hier als wesentlich in der Tradition verhaftet zu klassifizieren sei, kann demnach nicht ge-stützt werden. Der eigentliche kompositorische Sinn der Trennung des Gesamt-klangkörpers in zwei formal eigenständige getrennte Klangkörper jedoch bleibt letztlich undeutlich.2.2 Die formale Gesamtdisposition Schon der erste Blick in die Partitur verrät, dass die Gesamtanlage der Sinfonie nicht dem klassischen viersätzigen Schema entspricht, wie es sich exemplarisch vor allem in den Sinfonien Haydns ab etwa 1765 als Norm entwickelt hat, und als dessen frü-hestes Zeugnis eine Sinfonie G. M. Monns aus dem Jahr 1740 gilt. Henzes Werk be-steht demgegenüber aus einem einzigen durchgehenden Satz, dessen Einheit und Zusammengehörigkeit Henze unter anderem dadurch unterstreicht, dass er die Zählung der Studierbuchstaben von A bis WW durchlaufen lässt. Nun ist die Ab-weichung von der Viersätzigkeit allein noch kein Grund, die Einbindung von Hen-zes Werk in die Tradition der Sinfonie anzuzweifeln. Von Beginn an hat es immer