Die 6. Sinfonie von Hans Werner Henze 299 wieder Abweichungen von der Regel gegeben, darunter bei Beethoven und Berlioz, später bei Mahler, im 20. Jahrhundert u. a. bei Stravinsky, Schönberg und Webern. Trotz dieser Abweichungen setzen sich die Sinfonien jedoch in der Regel aus klar voneinander abgeschlossenen Einzelsätzen zusammen, auch wenn diese häufig at-tacca ineinander übergehen, wie etwa bereits in der 5. und 6. Sinfonie Beethovens.Es fragt sich, ob Henzes Stück nicht ebenfalls aus mehreren Einzelsätzen besteht, die alle unmittelbar ineinander übergehen. Tatsächlich gliedert sich das Stück im Höreindruck deutlich in drei Abschnitte: Teil I (S. 13–62), Teil II (S. 63–101) und Teil III (S. 102–131), die einen ausgeprägt eigenständigen Charakter aufweisen.5 Diese an sich prägnante Binnengliederung wird von Henze allerdings auf zwei Ebenen konterkariert: zum einen in der Optik der Partitur, indem z. B. der Übergang vom II. zum III. Teil ohne Doppelstrich o.ä. mitten zwischen zwei Studierbuchstaben (II und KK) steht, zum anderen durch zahlreiche Querverbindungen zwischen den Ab-schnitten (so wird z. B. mitten im Teil II auf S. 88 auf den Anfang des Teils I Bezug genommen). Zwar findet man die direkte Wiederkehr von Material früherer Sätze bereits in klassischer Sinfonik, man denke nur an die 9. Sinfonie Beethovens, den-noch lässt die von Henze auf allen Ebenen intendierte Einheitlichkeit des Stücks nur den Schluss zu, dass bei den drei Abschnitten eigentlich nicht von drei ›Sätzen‹ ge-sprochen werden darf, sondern dass es sich tatsächlich um einen einzigen Satz mit dreiteiliger Binnengliederung handelt. Trotz dieser Einheitlichkeit finden sich in den drei Abschnitten Hinweise auf eine Analogie zur Satzfolge der klassischen Sinfonie: Sonatensatz – langsamer Satz – Menuett oder Scherzo – schneller Schlusssatz. Ulrich Mosch hat in seiner Analyse den Bezug der Gesamtanlage zur Sinfonietradition deutlich herausgearbeitet,6 und auch Henze selbst hat diesen bewussten Traditions-bezug mehrfach erklärt (es fehlt allerdings ein scherzoähnlicher Abschnitt).7 Auch in der Abfolge der Haupttempi der Teile spiegelt sich die dann resultierende Abfol-ge schnell – langsam – schnell: Während Teil I sich im Bereich MM 92 und meno mosso bewegt, beginnt Teil II als Lento (MM 50), das Grundtempo ist wesentlich zu-rückgenommen, trotz einiger etwas schnellerer Passagen, etwa MM 84 auf Seite 70. Teil III beginnt bereits mit einem più mosso, zudem beobachtet man eine deutliche Zunahme der Aktionsdichte beim Vergleich zwischen dem Ende von II (S. 101) und dem Beginn von III (S. 102), vor allem durch die Führung der Violinen in beiden Or-chestern in nahezu komplementären Sechzehntel(n). Ab Seite 109 setzt in diesem Teil eine rapide und beinahe stetige Tempobeschleunigung ein, die auf Seite 126 in 5 Die Angaben der Seitenzahlen in der Analyse beziehen sich auf die Ausgabe der Partitur in der Edi -tion Schott Nr. 6313. Angegebene Taktzahlen finden sich nicht in der Partitur, sondern sind der einfa -cheren Orientierung halber vom Verfasser selbst ausgezählt, wobei die beiden nicht-metrisierten Stel -len (S. 39 u. S. 50) jeweils als ein Takt gezählt wurden.6 Vgl. Ulrich Mosch: Zum Formdenken Hans Werner Henzes: Beobachtungen am Particell der 6. Sym-phonie, in: Quellenstudien. II: Zwölf Komponisten des 20. Jahrhundert (= Series: Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, No. 3), Winterthur 1993, S. 149–168.7 Vgl. Christian Martin Schmidt: Über die Unwichtigkeit der Konstruktion. Anmerkungen zu Hans Werner Henzes 6. Symphonie, in: Melos 2 (1976), S. 277; sowie: Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten: Autobiographische Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt 1996, S. 322.