300 Christoph Louven einen Schlussabschnitt mündet, der fast Kehraus-Qualitäten aufweist, und der da-mit an die auch in der reinen Instrumentalmusik geläufige Praxis einer Stretta am Schluss eines Finalsatzes erinnert (man denke z. B. an Beethovens 5. Sinfonie). Die Gesamtanlage der Sinfonie scheint auf zwei historische Quellen zu verwei-sen: mit der Rückkehr zu einer dreiteiligen Anlage mit der Satzfolge schnell-lang-sam-schnell erinnert das Stück an die italienische Sinfonia des 17. Jahrhunderts, die sich als Vorläuferin der klassischen Sinfonie um 1750 aus der funktionalen Bindung zur Oper löst, und auf die auch Stravinsky mit seiner » Symphonies d'instruments à vent « Bezug nimmt. Interessant ist, dass die verwendete Schott-Partitur das Werk als » Sinfonia N. 6 für zwei Kammerorchester « betitelt. Da Henze selbst aber in sei-nen Schriften und Gesprächen immer von Sinfonie spricht, muss die Aussagekraft dieser Tatsache zumindest zweifelhaft bleiben. Auf der anderen Seite: Hat man Henzes Wort im Ohr, die Sinfonie handele » von allen Ländern der dritten Welt « (s. o.), so könnte man in diesem fast programmatischen Ansatz auch ein deutlichen Anklang an die einsätzige Sinfonische Dichtung des späten 19. Jahrhunderts sehen.Ergibt sich auch aus den bisherigen Überlegungen ein enger Bezug der Gesamt-anlage zur sinfonischen Tradition, so stellt sich dennoch weiterhin die Frage, in wel-cher Form sich auch in der Binnenstruktur der einzelnen Teile die Bezüge zu tradi-tionellen Formkonzepten wiederfinden. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, alle drei Abschnitte im Detail unter diesem Gesichtspunkt analysieren zu wollen. Daher wird sich der nächste Abschnitt darauf konzentrieren, die Bezüge des ersten Teils zur Sonatenhauptsatzform als dem charakteristischsten formalen Kon-zept der klassischen Sinfonie herauszuarbeiten und damit die Frage zu verknüpfen, ob dieser formale Rückbezug auf die Tradition auch der intendierten Fasslichkeit der Musik zu gute kommt. 3 Analyse des 1. Teils 3.1 Die Einteilung in Wahrnehmungsabschnitte Der erste Teil der Sinfonie erstreckt sich von Seite 13 (erste Partiturseite) bis zur Sei-te 62. Hört man diesen ersten Teil im Hinblick auf die Geschlossenheit der musikali -schen Struktur, so stellt man fest, dass er, trotz eines einheitlichen, vom zweiten Teil deutlich abgehobenen Grundcharakters, in zahlreiche einzelne Abschnitte von un-terschiedlicher Länge, aber jeweils deutlicher Individualität gegliedert ist. Dem Hö-rer drängt sich beim Wechsel der Abschnitte jeweils der Eindruck einer Zäsur oder das Bewusstsein auf, es beginne etwas Neues. In sich weisen die Abschnitte eine einheitliche Gestaltung auf, so dass insgesamt der Eindruck von sich abwechseln-den, jeweils sehr charakteristischen Blöcken mit sehr charakteristischen Merkmalen entsteht, die beim Hören im Sinne gestaltpsychologischer Prinzipien als gestalthafte Ganzheit wahrgenommen werden. So weist z. B. der erste Block von Takt 1–27 als hervorstechendes Merkmal ein mit mehrfach verschränkten Achtelton-Glissandi ge-