306 Christoph Louven raktere, da die Glissandi der Harfe und die Klangfläche der Streicher ff bzw. ffff ohne weitere Nebenstimmen besonders exponiert erklingen. Aus den bisherigen Erläuterungen geht hervor, dass die von Henze verwendete Technik nur wenig mit den Prinzipien motivisch-thematischer Arbeit gemein hat. Es geht eben primär nicht darum, begrenzte Einzelelemente zu variieren und zu verar -beiten, etwa durch bekannte Techniken wie Transposition, Krebs, Umkehrung oder dergleichen. Vielmehr findet sich eine Variation der gesamten Satzstruktur unter Beibehaltung jeweils für den Gesamteindruck charakteristischer Elemente und die Individualisierung dieser Einzelelemente auf dem Wege einer Merkmalsschärfung. Gerade dies macht dieses Stück aber einer Analyse, die sich nur am Notentext orien-tiert, ohne den Höreindruck mit einzubeziehen, kaum zugänglich. Christian Martin Schmidt findet für Henzes Technik die Beschreibung:» Nicht aber werden in erster Linie Motive, Thementeile aus jenem Abschnitt durchführungsartig verarbeitet, sondern der Tonsatz des ganzen Abschnitts wird variativ umgestaltet.« 9 3.2.2 Block 11 bis 17 Block 11 auf S. 23 bringt neues Material (IV): in den Linien von Altflöte, Saxophon, Fagott und Englischhorn finden sich weitgeschwungene melodische Linien, die es in dieser Form bisher nicht gab. Dabei ist die als Hauptstimme gekennzeichnete Li-nie in Fagott und Englischhorn Takt 110f. die Umkehrung des Beginns in Flöte und Saxophon. Insgesamt herrscht in diesem Abschnitt eine lyrische, kammermusika-lische Grundstimmung vor. Davon hebt sich deutlich Block 12 ab (V), der vor allem durch die Hauptstimme im Banjo charakterisiert ist. Hier verarbeitet Henze das vietnamesische Befreiungslied. Die folgenden Abschnitte 13, 15 und 17 stammen aus dem Grundmaterial von IV. Während aber z. B. bei der Umgestaltung von II zu II' der Gesamteindruck sich nicht wesentlich änderte, wendet Henze nun das Verfahren an, zwar das Material zu übernehmen, den Charakter aber völlig zu verändern. Um beide Techniken un-terscheiden zu können, wird Block 13, der sich vor allem durch die weiten melodi -schen Bögen auf IV bezieht, ansonsten aber einen viel schrofferen Gestus aufweist, als IV2 bezeichnet. Dieser wird in den Blöcken 15 und 17 zu IV2' und IV2'' weiter umgestaltet, wobei die Beziehungen zwischen den einzelnen Variationen sehr auf-fällig sein können, etwa bei der Wiederholung der ersten 4 Takte aus IV2' (S. 25) in IV2'' (S. 27). Es gibt aber ebenso versteckte Bezüge, etwa die Tatsache, dass die Linie der Solovioline in IV2'' (T. 180f, S. 31) genau aus den Tönen von Flöte und Saxophon zu Beginn von IV (S. 23) besteht. Berücksichtigt man die bereits angesprochenen Er-kenntnisse von Edworthy und Dowling, so muss davon ausgegangen werden, dass diese strenge strukturelle Beziehung nicht mit der Wahrnehmung korreliert: es gibt 9 Vgl. Christian Martin Schmidt: Über die Unwichtigkeit der Konstruktion. Anmerkungen zu Hans Werner Henzes 6. Symphonie, S. 277 (s. Anm. 7).