Die 6. Sinfonie von Hans Werner Henze 315 Spricht man diesen beiden Großabschnitten Expositionscharakter zu, erwartet man im Folgenden einen durchführungsartigen und einen reprisenartigen Formab-schnitt. Der nächste Großabschnitt arbeitet mit Material aus dem Hauptsatz der Ex-position, vor allem mit Material aus I. Interessanterweise zeigen sich in seiner Bin-nenstruktur deutliche Bezüge zur Anlage des Hauptsatzes: Blöcke mit selbständi-gen bzw. selbständig gewordenen Elementen (IA, IF2, II2) werden durch Blöcke mit weiter unselbständigen Grundmaterialien (Ic,b und Ia',d',c',e') unterbrochen, ähnlich wie im Hauptsatz eine Unterbrechung der I-Grundschicht durch Material aus II stattfindet. Für diese These einer analogen Formkonzeption spricht auch die Tatsa-che, dass sich an zentraler Stelle in beiden Großabschnitten das Material IF findet, beim zweiten Mal als IF2. Zur besseren Vergleichbarkeit sind die aufeinander bezo-genen Blöcke jeweils untereinander aufgeführt. An die Corona, deren Ausnahmestellung in der Formkonzeption bereits einge-hend erläutert wurde, schließt sich ein weiterer Großabschnitt an, der erstmals Ma-terial aus Haupt- und Seitensatz kombiniert. Auch hier weist der Aufbau dieses Ab-schnitts – zumindest in den ersten zwei Dritteln – zwar entfernte, aber doch deut-lich sichtbare Parallelen zum Aufbau des Seitensatzes auf. Die aufeinander bezoge-nen Blöcke stehen wieder untereinander. Die Grundschicht besteht wie im Seiten-satz aus IV-Material, die eingelagerte Entwicklung erscheint umgekehrt von I nach V. Obwohl diese Bezüge durch die vielfältigen Kombinationen der verschiedenen Grundmaterialien verschleiert und aufgebrochen sind, erscheint mir die grundle-gende Feststellung eines aufeinander bezogenen Aufbaus durchaus plausibel. Angehängt an den auf den Seitensatz bezogenen Teil dieses Großabschnitts er-scheinen die vier in der dritten Zeile aufgeführten Blöcke, die eine weitere Kombi -nation vorhandenen Materials bieten. Nimmt man das Gesagte zusammen, so lässt sich zumindest für den zuletzt be-sprochenen Abschnitt ein deutlicher Durchführungscharakter konstatieren. Die Fra-ge ist, ob auch der bereits auf den Hauptsatz bezogene, dritte Großabschnitt zur Durchführung gezählt werden kann, oder ob er nicht, quasi als Schlussgruppe unter Wiederaufnahme des Hauptsatzes, zur Exposition gehört. Damit würde die eigent-liche Durchführung erst mit der Corona einsetzen. Diese These erscheint plausibel; andererseits findet in diesem Großabschnitt bereits deutlich durchführungsartige Arbeit mit dem vorhandenen Material statt, auch ist eine Vorherrschaft von Material des Hauptsatzes zu Beginn der Durchführung auch in der klassischen Sonate nicht außergewöhnlich. Es handelt sich hier demnach um einen ambivalenten Abschnitt, der einen fließenden Übergang von der Exposition zur Durchführung schafft. Die größte Abweichung zur Sonatenhauptsatzform besteht darin, dass sich an die Durchführung nun kein reprisenartiger Formabschnitt mehr anschließt. Wie be-reits aus der Besprechung der einzelnen Blöcke deutlich wurde, haben die letzten vier Blöcke einen eindeutigen Coda-Charakter, eine Reprise kann hierin nicht er-kannt werden. Statt der Dreiteiligkeit der klassischen Sonatenform findet sich dem-nach bei Henze lediglich ein zweiteiliger Aufbau.