316 Christoph Louven Man könnte es bei dieser Feststellung bewenden lassen, drängte sich nicht die Frage auf, welche Rolle die auffallende formale Parallelität zwischen Exposition und Durchführung für die Formdisposition des Stückes spielt. In der Tat wäre diese Paral-lelität aus formalen Gründen überflüssig; die Durchführung braucht sich an den Aufbau der Exposition nicht anzulehnen. An diesem Punkt muss man sich ins Ge-dächtnis rufen, dass auch in der klassischen Sonate die Dreiteiligkeit durch eine zweiteilige Gliederung überlagert wird: der Exposition auf der einen Seite stehen Durchführung und Reprise auf der anderen gegenüber. Dies äußert sich nicht zu-letzt im Wiederholungsschema:|: Exposition :||: Durchführung, Reprise :| Man kann mit aller Vorsicht die These wagen, dass Henze hier im ersten Teil seiner Sinfonie eine Synthese versucht zwischen Durchführung und Reprise. Der gesamte Charakter der Verarbeitung der in der Exposition entwickelten Blockcharaktere, ihre Individualisierung und Kopplung unterstreicht den Durchführungscharakter. Der innere Aufbau analog zur Exposition jedoch lässt das Ganze mehr als Reprise erscheinen. Das Wesen der Reprise in der klassischen Sonatenform besteht im Aus-gleich der in der Exposition aufgestellten und in der Durchführung dramatisch ver-arbeiteten Gegensätze von Haupt- und Seitensatz. In gewissem Sinne findet man dieses Element auch bei Henze: die Kopplungen und Verschmelzungen der beiden Grundmaterialien von Haupt- und Seitensatz (I und IV) in den Blöcken ab 29 wir-ken ja gerade integrativ und die Gegensätze ausgleichend. Stimmt man der These einer Verbindung von Durchführung und Reprise in die-ser Formanlage zu, so hat man es beim ersten Teil der Sinfonie tatsächlich mit dem Grundprinzip der Sonatenhauptsatzform zu tun, die Henze zwar dehnt, erweitert (z. B. durch die Corona) und miteinander verschränkt, die aber dennoch als Grund-prinzip erkennbar bleibt, dies alles auf der Basis eines konsequenten Plans bei der variativen Umgestaltung der Blockcharaktere. Petersens Aussage (vgl. Anmerkung 4) muss demnach in allen Punkten widersprochen werden.