Die 6. Sinfonie von Hans Werner Henze 317 4 Fazit Die Untersuchung der Formkonzeption der Sinfonie war von der Frage ausgegan-gen, ob Henze sich mit diesem Werk in die Tradition der klassisch-romantischen Sinfonie stellt, indem er auf die überkommenen Formschemata Bezug nimmt. Dies kann für den genauer untersuchten Bereich mit einem klaren » Ja « beantwortet wer-den. Henze formt dabei das Prinzip der Sonatenform so um, dass sie eine maximale Prägnanz des Augenblicks gestattet und so seinem Bestreben nach Fasslichkeit ent-gegen zu kommen scheint. Insofern ist dieser Teil für Henze » der Versuch, die Wirk-samkeit dieser dialektischen Form in einem heutigen soziokulturellen Kontext aus-zuprobieren « .10 Die zweite grundlegende Frage betraf den revolutionären Anspruch Henzes, mit diesem Werk eine » proletarische Sinfonie « zu komponieren, die die elitäre Abgren-zung der Avantgarde zur arbeitenden Klasse durchbricht. Ist es daher Henze mit diesem Stück gelungen, eine Verbindung zu schaffen von höchster Kunstfertigkeit in der formalen und satztechnischen Anlage und einer transparenten, auf Fasslich-keit angelegten Musiksprache, die auch Ungeübten den Zugang gestattet? Zunächst ist zu konstatieren, dass die sehr deutliche Aufgliederung des musika-lischen Flusses in einzelne Blockcharaktere diesem Bemühen entgegenkommt. Das grundlegende Problem ist allerdings, dass sich diese Strukturierung in der Wahr-nehmung auf die lokale Ebene beschränkt: man entdeckt schnell, dass gerade ein neuer Block begonnen hat. Entdeckt man aber auch die Einbindung des Einzel-blocks in größere Formabschnitte und die Beziehungen zwischen den variativ um-gestalteten Einzelcharakteren? Sind diese Bezüge also in der Wahrnehmung präsent oder sind sie lediglich der Analyse zugänglich? Das Mittel der deutlichen Blockcharakterisierung, das auf lokaler Ebene die Wahrnehmung so wirkungsvoll unterstützt, scheint mir für die globaleren Zusam-menhänge genau den gegenteiligen Effekt zu haben. Der ausgeprägte Charakter ge-rade bei den Blöcken, die eine Kombination vorheriger Grundmaterialien bringen, verhindert die Wahrnehmung der die Beziehung herstellenden Einzelbestandteile. Dies wird dadurch verstärkt, dass Henze die Hörer durch die sehr klare Gliederung in der Exposition zu blockhaftem Hören quasi erzieht, sie also auf den Gesamtcha-rakter des Blocks achten und die Baumaterialien aus dem Auge verlieren. Letztlich wirkt so das Stück als Abfolge von Einzelblöcken, deren Bezüge unter-einander man zwar zu Anfang in der Exposition noch entdecken kann, später in der Durchführung allerdings kaum noch. Dies liegt nicht an einem zu komplexen Bin-nenaufbau dieser Blöcke, der in seiner Komplexität nicht nachzuvollziehen wäre. Vielmehr ist es gerade die deutliche Charakterisierung, die den Blick auf die Ele-mente verstellt. Es scheint, dass Henze in seinem nicht musikalisch, sondern poli-tisch motivierten Bemühen um Klarheit und Transparenz aus dem Blick verliert, dass Weniger manchmal Mehr sein kann: Die These sei erlaubt, dass dieses Stück an 10 Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten: Autobiographische Mitteilungen 1926–1995, S. 322 (s. Anm. 7).