320 Reinhold Mokrosch 2 Das Klavier in Bonhoeffers Kindheit und Jugend (1912–1924)Als Dietrichs Vater 1912 in Breslau einen Ruf an die Berliner Charité als Chefarzt der dortigen Psychiatrie erhielt und die gesamte 10-köpfige Familie samt Personal nach Berlin umzog, begann der 6-jährige Dietrich dort sofort mit dem Klavierspiel und Klavierunterricht. Auch andere seiner sieben Geschwister und besonders seine Zwillingsschwester Sabine nahmen Klavierunterricht, aber Dietrich saß mit solcher Leidenschaft am Klavier, dass er unter den acht Geschwistern wohl derjenige war, der die Musiktradition aus dem Hause seiner Mutter Paula am intensivsten voran-getrieben hat. Es bestand mütterlicherseits nämlich eine große Klaviertradition bei den Bonhoeffers: Mutter Paulas Mutter Clara von Hase aus der Familie Kalkreuth hatte noch bei Clara Schumann und Franz Liszt Klavierspielen gelernt und hatte es relativ weit gebracht. Der kleine Dietrich war sich zwar erst später dieser Tradition seiner Großmutter bewusst, aber er führte sie eben schon als Kind unbewusst wür-dig weiter.Er hatte schon mit 10 Jahren Mozart-Sonaten vorgespielt. Er komponierte ein Trio über Schuberts Lied » Gute Ruh « . Er schrieb mit 11 Jahren eine Kantate über Psalm 42,6 » Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir « . Und er begleitete » Lieder von Schubert, Schumann, Brahms und Hugo Wolf, welche seine Mutter und seine stimmbegabte Schwester Ursula sangen.« 5 Es waren oft Lieder vom Tod und vom Sterben.6 Seinen Pfadfinderfreunden spielte er Schubert vor und organisierte Haydn-Trios für Aufführungsabende.7 Es existieren manche Fotos, wel-che den kleinen Dietrich am Klavier zeigen, wie er mit seiner Mutter und seinen sin-genden und Flöte spielenden Geschwistern oder auch mit seinen Pfadfinderfreun-den musiziert. Musik gehörte im Hause Bonhoeffer wie in vielen Häusern des gebildeten Bür-gertums zum Alltag eben hinzu. An jedem Karfreitag besuchte die ganze Familie eine Aufführung der Matthäus-Passion von J. S. Bach, die von Felix Mendelssohn-Bartholdy neu ausgegraben und seitdem regelmäßig aufgeführt worden war. Man hörte sich an jedem Buß- und Bettag auf Schallplatten oder im Konzertsaal die h-Moll-Messe von Bach an. Und zu Hause wurden immer wieder gemeinsam Cho-räle angestimmt.Als Jugendlicher spielte Dietrich das » Wohltemperierte Klavier « und einige Kla-vier-Sonaten von Beethoven, unter ihnen auch die äußerst schwierige Sonate op. 111. Seine Mutter Paula hätte aus ihm gern einen Berufs-Pianisten gemacht. Deshalb arrangierte sie 1922 für ihren 16-jährigen Sohn ein Vorspiel bei dem be-kannten Berliner Pianisten Leonid Kreuzer. Dietrich spielte u. a. op. 111. Wie Kreu-zer reagiert hat, wissen wir nicht. Uns ist aber überliefert, dass Dietrich selbst es ab-gelehnt hat, Berufsmusiker zu werden. Er fühlte sich den Anforderungen eines Be-5 DB, S. 48 (s. Anm. 3).6 Vgl. DBW VII, S. 241 (s. Anm. 2).7 Vgl. DB, S. 56 (s. Anm. 3).