322 Reinhold Mokrosch Als er zu seinem ersten Theologie-Semester nach Tübingen umzog, lebte er dort ohne eigenes Klavier. Allerdings stand im Haus seiner Verbindung » Igel « , welcher er beigetreten war, ein Klavier, auf dem er jederzeit spielen durfte. » Man hat jetzt auf dem Haus ein neues Klavier angeschafft « , schrieb er seinen Eltern, » auf dem ich jederzeit spielen könne. […] Im Übrigen wird dort ziemlich viel Musik gemacht.« 12 Aber es war eben kein eigenes Klavier. Vielleicht war das auch ein Grund für sein relatives Unwohlfühlen in Tübingen. Denn als er aufgrund eines Unfalls zum 3. Se-mester wieder nach Berlin zurück kehrte und dort wieder auf seinem geliebten Flü-gel spielen konnte, genoss er diesen Vorteil. Ob und welche Rolle der Flügel und die (Klavier-)Musik während seines weite-ren Studiums (1925–1927), während der Anfertigung seiner Dissertation (1927) und seiner Habilitation (1929–1930) spielten, können wir nur erraten. Die Arbeit an der Theologie nahm ihn total in Anspruch. Zur Solo- oder Kammermusik hatte er über-haupt keine Zeit. Vielleicht hatte ihm auch die kognitive Theologie den Zugang zur Musik erschwert oder gar verwehrt?Umso erstaunlicher ist es, dass er seinen elterlichen Bechstein-Flügel zu seinem Vikariat in Barcelona 1927–1929 mitnahm. Der Transport war äußerst kompliziert, aber er bestand darauf. Offensichtlich hatte er eine persönlich-individuelle Bezie-hung zu seinem Instrument aufgebaut. Der Flügel ermöglichte es ihm, dass er in seiner kleinen Privat-Wohnung in Barcelona Kinder- und Jugendstunden mit Musik durchführte. Für sich selbst spielte er vor allem Bach und Beethoven. Aber er hat uns keine signifikanten Äußerungen zur Bedeutung seiner Klaviermusik-Praxis für seine Lebensführung in dieser Zeit überliefert. Er erwähnt in seinem Barcelona-Tagebuch und in seinen Briefen nur, dass er häufig, ja täglich Klavier spielt.13 Welche Rolle spielte das Klavier für ihn in den Jahren 1929–1933? Nach seiner Habilitation im Juli 1930 besuchte er 1930/31 das Union Theological Seminar in Manhattan/New York, wo er die Morgenandachten am Klavier begleitete. Nach sei-ner Rückkehr nach Berlin 1931 hielt er Vorlesungen und Seminare als Privatdozent an der Universität und hatte wieder seinen häuslichen Flügel zur Verfügung, der in-dessen aus Barcelona wieder zurückgekehrt war. 1932–1933 wirkte er als Studenten-pfarrer an der Technischen Universität Berlin. 1933 erlebte er hautnah die Ermäch-tigung der Nazi-Eliten und seit dem 1. April 1933 war er in den Widerstandskampf gegen den staatlich und später kirchlich verordneten Antisemitismus involviert. Das Klavier hatte in diesen Jahren keinen Vorrang. Bedeutung hatte es für ihn si-cherlich gehabt. Aber welche? 4 Musik und Gottesdienst (1934–1940)Im Oktober 1933, kurz nach der Einführung des grauenhaften Arierparagraphen in der » Deutschen Evangelischen Kirche « (DEK), übernahm er eine Auslandspfarrstel-12 Vgl. DB, S. 76 (s. Anm. 3).13 Vgl. DBW X, S. 24f., 27, 36, 42, 51, 50, 67 (s. Anm. 2).