Dietrich Bonhoeffer und sein Klavier 325 5 Soll Musik das Geistige oder das Realistische der Wirklichkeit darstellen? (1941–1942)Seit 1940/41 hatte Dietrich einen besonders intensiven musikalischen Kontakt zu seinem Freund und späteren Biographen Eberhard Bethge geknüpft. Die beiden hat-ten sich die Noten von Bachs » Kunst der Fuge « in der Version für Klavier und Cem-balo/Spinett gekauft und oft zusammen gespielt. Das Bach-Werk, das ja bekanntlich ein Fragment geblieben ist, sollte später im Gefängnis für Dietrichs » fragmentari -sches Leben « eine große symbolische Relevanz erhalten.Er befasste sich in dieser Zeit auch intensiv mit der Frage, ob Musik vorrangig das Geistige oder das physikalisch Realistische der Wirklichkeit wiedergeben solle. In einem Brief an Eberhardt Bethge vom 8. 2. 1941 schrieb er: Lieber Eberhard! Die musikalischen Aufsätze haben mich sehr interessiert. […] Übe doch die Müller-Variationen; die würde ich gern mit Dir spielen. Das Buch über Schütz-Bach habe ich gern gelesen; gerade die Einzelausführungen fand ich überzeugend, obwohl mir manches noch unklar geblieben ist. Die Grenze der Darstellung des geistigen Gehaltes, etwa der Tränen (des Petrus), und einer realistischen Wiedergabe, Übersetzung des Physischen [derselben] ins Musikalische ist mir doch nicht recht deutlich. Ich verstehe den wesent -lichen Unterschied, aber ich weiß nicht, ob er sich praktisch so durchführen lässt.24 Ich bin sicher, dass Bonhoeffer am Klavier sowohl den geistigen als auch den realis-tischen Gehalt der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen wollte. Eine » Grenze « zwi-schen beiden wollte er bestimmt nicht ziehen. So wie er sich lebenslänglich gegen eine Zweiteilung der Wirklichkeit in eine göttliche und eine weltliche (Luther), eine heilige und eine profane (R. Otto) oder eine intelligible und eine sensible (Kant) Welt gewehrt hat, so lehnte er sicherlich auch eine Trennung zwischen geistigen und realistischen Gehalten der Wirklichkeit bzw. eine solche Unterscheidung in der Musik ab. Es ging ihm darum, dass Göttliches und Heiliges diesseitig mitten in der Wirklichkeit vorzufinden seien, und darum, dass Geistiges mitten im physikalisch Realen zu entdecken sei. Seine Skepsis gegenüber einer » Grenze « erscheint mir plausibel.Ein Jahr später, am 15. November 1942, schrieb er an Waltraut Distler, Ehefrau von Hugo Distler, der am 1. 11. 42 mit 34 Jahren freiwillig mit einem Bild seiner Frau und seiner Kinder und einem Kreuz in der Hand aus dem Leben geschieden war. Ich gebe den ganzen Brief wieder:Sehr verehrte gnädige Frau! Sie kennen mich nicht und ich habe Ihren Mann leider nicht persönlich gekannt, aber ich habe seine Musik sehr geliebt und ich habe von seinem Sterben gehört, und so möchte ich Ihnen gerade als einer der 24 DBW XVI, S. 135 (s. Anm. 2).