Dietrich Bonhoeffer und sein Klavier 327 Möglichkeit jäh, als die Nazi-Schergen am 1. Okt. 1944 Geheimdokumente der Kon-spirateure entdeckten, die Bonhoeffers enge Beteiligung an den Attentatsplänen ge-gen Hitler belegten. Deshalb wurde er am 8. Oktober in den berüchtigten Keller des Reichssicherheitshauptamtes in Berlins Prinz-Albrecht-Straße verlegt, wo er über-haupt keine Verbindung zur Außenwelt mehr hatte.Seine Briefe und Aufzeichnungen vom April 1943 bis zum Oktober 1944 wurden 1956 von Eberhard Bethge zusammengestellt und unter dem Titel » Widerstand und Ergebung « veröffentlicht. Das Buch ist seitdem in ca. 40 Sprachen übersetzt worden und hat Millionen Menschen aller Kontinente bewegt.Natürlich standen Bonhoeffer in der Haft kein Klavier und keine Schallplatten, sondern nur ein » plärrendes Radio « zur Verfügung.26 Und trotzdem: Auch im Ge-fängnis lebte er von seinem Klavier und von Musik. Ja, ohne Erinnerung an sein Klavier und ohne imaginierte Musik hätte er, so bin ich überzeugt, die Gefangen-schaft bis zu seiner Hinrichtung am 9. April 1945 nicht überlebt und er hätte keine neue Theologie entwerfen können.Ich möchte mich nur auf wenige seiner vielen Äußerungen zu Musik und Kla-vier während seiner Haft beschränken: (a) auf seine Erinnerungen an seine Klavier-Lied-Begleitungen; (b) auf seine Äußerungen zur » Kunst der Fuge « ; und (c) auf sei-ne Überlegungen zu den Kompositionen des tauben Beethoven.(a) Besonders wichtig wurden für ihn unter den grauenhaften Gefängnisbedin-gungen die Texte der Lieder, die er früher am Klavier begleitet oder selbst gesungen hatte. So schrieb er im Mai 1943 an seinen Freund Bethge, mit dem er oft im Hause Schleicher und Dohnanyi musiziert hatte: » Ich denke oft an das schöne Hugo-Wolf-Lied, das wir in letzter Zeit mehrfach gesungen haben: ›Über Nacht, über Nacht kommt Freud und Leid, und eh du’s gedacht, verlassen dich beid’, und gehen zum Herrn zu sagen, wie du sie getragen.‹« 27 Diese Strophe entsprach genau seiner Si-tuation und Einstellung: Über Nacht wurde er zum Todeskandidaten; im Gefängnis erlebte er Leid, aber auch innere Freude; und er war überzeugt, dass allein Gott das letzte Urteil sprechen würde.In gleicher Weise wurden die Psalmen-Texte in der Vertonung von Heinrich Schütz für ihn zum Lebens-Elixier: » Die Musik von Heinrich Schütz « , schrieb er im Juni 1943 an seine Eltern, » besonders die vertonten Psalmen, deren Kenntnis ich Re-nate Schleicher-Bethge verdanke, gehören zu den größten Bereicherungen meines Lebens.« 28 Und er träumte von seiner erhofften Freilassung: » Es wird eines der be-sonders schönen Augenblicke beim Freiwerden sein, wieder einmal mit ihnen [sc. Eberhard und Renate Bethge, Rüdiger Schleicher und Hans von Dohnanyi] zu mu-sizieren.« 29 Die von Schütz vertonten Psalmenverse z. B. » Eile, Gott, mich zu erretten « (Ps 70) u. a. aus dessen » Kleinen Geistlichen Konzerten « faszinierten und trösteten 26 DBW VIII, S. 389 (s. Anm.2).27 Ebd., S. 57f.28 DBW VIII, S. 72 (s. Anm.2).29 Ebd., S. 102.