Dietrich Bonhoeffer und sein Klavier 329 nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral ›Vor Deinen Thron tret ich allhier‹ – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser frag-mentarisches Leben nicht beklagen, sondern dann sogar froh werden.« 35 Die » Kunst der Fuge « öffnete ihm die Augen für den Fragment-Charakter jedes und besonders seines Lebens. Das spendete ihm in der Haft Trost und Gelassenheit. (c) Eine besondere Bedeutung gewann für Bonhoeffer in der Haft » die Musik des tauben Beethoven « . Denn er, der in der Gefängniszelle außer dem » plärrenden Ra-dio « keine Musik mehr hören und an keinem Klavier mehr spielen konnte, sah sich in einer ähnlichen Situation wie Beethoven, der im Alter nicht mehr hören konnte. Und so kam er in seinem Brief vom 27. März 1944 an Bethge zu der ergreifenden Einsicht: » Aber es ist merkwürdig, wie die nur mit dem inneren Ohr gehörte Musik, wenn man sich ihr gesammelt hingibt, fast schöner sein kann als die physisch ge-hörte; sie hat eine größere Reinheit, alle Schlacken fallen ab; sie gewinnt gewisser -maßen einen ›neuen Leib‹.« 36 Und nach diesem Bekenntnis erinnert er sich an Beethovens letzte Klavier-Sonate op. 111, die sein Klavierleben durchgehend beglei-tet hat: 37 35 DBW VIII, S. 336 (s. Anm.2).36 Ebd., S. 368.37 Das Notenzitat wird hier in der originalen Handschrift Bonhoeffers aus der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz wiedergegeben (Signatur Nachl. 299 (D. Bonhoeffer) A 80, 151, Bl. 18–19)– für die Abdruckgenehmigung sei der Bibliothek herzlich gedankt. Bonhoeffer hat das Zitat aus der Erinnerung heraus anders notiert als Beethoven, indem er den origi-nalen 9/16-Takt in einen ¾ -Takt umformte und das im Original auftaktige Thema in ein abtaktiges verwandelte – als reiner Lapsus ist das fehlende (zweite) Sechzehntel-Fähnchen im zweiten Takt an-zusehen. Beide Abwandlungen verändern das Original nur marginal: In Bonhoeffers Notation er-scheinen die ersten beiden Noten im Verhältnis 3:1, nicht wie bei Beethoven 2:1; eine fallende Quarte am Beginn wird vielfach abtaktig empfunden, anders als eine aufsteigende Quarte, die deutlich auf -taktig wahrgenommen wird, wie in vielen Volksliedern und Chorälen. Ein ähnlich abtaktiges Ver -ständnis des Themas scheint sich in Thomas Manns Roman » Doktor Faustus « niederzuschlagen, wenn der über die Sonate referierende Musiklehrer Wendell Kretzschmar dem Anfangsmotiv des Themas die Worte Him-melsblau, Lie-besleid, Der-maleinst oder Wie-sengrund unterlegt, jeweils in dieser Schreibung (Kap. VIII). Das Wort Wiesengrund kann als ein Hinweis auf Th. W. Adorno ver-standen werden, der Thomas Mann bei dem Roman in musikalischen Angelegenheiten beriet.Beethoven selbst hat in den Skizzen zum ersten Satz seiner Appassionata – wohl aus Gründen der Schreibvereinfachung – eine ähnliche Taktveränderung vorgenommen, indem er teilweise den 12/8-Takt als 4/4-Takt notierte, jedoch mit dem Unterschied, daß im Falle Bonhoeffers das Verhältnis von langen zu kurzen Noten in den Motiven verschärft, im Falle der Appassionata jedoch gemildert wur -de (aus 5:1 wurde 3:1).Bisherige prominente Ausgaben der Briefe Bonhoeffers haben das Notenzitat entweder in der Schreibweise Beethovens abgedruckt (Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951, 11 1980, S. 125) oder aber die Schreibung Bonhoeffers übernommen (DBW VIII, S. 368), allerdings – wohl irr-tümlich – mit Achtel-Fähnchen an den halben Noten. [Anm. des Hrsg. S. H., mit Dank für wertvolle Hinweise an Hartmuth Kinzler.]