332 Bernhard Müßgens Tanzprojekte an Schulen bieten Studierenden in der Lehrerausbildung die Mög-lichkeit, schwierige Unterrichtssituationen in Projektgruppen zu reflektieren und sich in Konfliktsituationen als künftige Lehrerinnen und Lehrer zu erproben. Zu Se-mesterbeginn denken und handeln sie in der Regel produktionsorientiert und las-sen den Kindern noch wenig Spielraum für die Entwicklung eigener Tänze, indem sie Bewegungen und Bewegungsfiguren zur Musik mit Blick auf eine Vorführung am Ende einer Arbeitsphase vorschlagen. Daher richte ich ihre Aufmerksamkeit zu-nächst auf eigene Erwartungen, Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen in der Arbeit mit den Kindern. Hohe Leistungserwartung verbunden mit Produktorientie-rung sind an Zweifeln zu erkennen, die geäußert werden: die Sorge etwa, die ausge-wählte Musik sei für die Kinder zu komplex, weil sie z. B. Rhythmus und Metrum nicht adäquat in Körperbewegung übersetzen könnten. Die ersten gemeinsamen Tanzstunden mit den Kindern zeigen ihnen dann, wie wichtig die Entwicklung von Tänzen als Arbeitsprozess im Vergleich zum » fertigen Tanz « für die Kinder ist. Selbst an eigenen Tänzen früherer Projektphasen verlieren die Kinder das Interesse manchmal rasch und entwickeln lieber neue Tänze, als beständig rhythmische oder räumliche Details bisheriger zu verbessern. Die Studierenden erkennen in den an-schließenden Reflexionen sich und ihre sorgenvolle Leistungsorientierung als Hin-dernisse für den natürlichen Lern- und Entwicklungsprozess beim Tanzen und hal-ten sich mehr zurück. Oft äußern sie als wichtigste Semestererfahrung, die Kinder anfangs weit unterschätzt zu haben und sind erleichtert, sich gegen Projektende besser zurücknehmen und den jeweils passenden Abstand einhalten zu können. Auch gelingt es ihnen dann, den Kindern genauere Rückmeldung zu geben und sie zu mehr Eigeninitiative zu motivieren als zuvor.Die Konflikte, um die es geht, sind vielfältig und immer einmalig und erfordern individuelle Lösungen. In einer Grundschule verließ ein Drittklässler den Unter-richt empört und offenbar verletzt. Er hatte das Gefühl, dass seine Vorschläge zur Entwicklung der Tänze von den Mitgliedern seiner Gruppe nicht gewürdigt und berücksichtigt wurden. Die übrigen Kinder kannten ähnliche Situationen aus dem Unterrichtsalltag. Für die Studierenden war sie neu. Sie konnten nicht wissen, ob sie den Rückzug des Jungen mit verursacht hatten. Manche Studierende sahen sich nicht nur in der pädagogischen Verantwortung, sondern als mögliche Ursache des Rückzugs und sogar als » Mitschuldige « . Schuldgefühle helfen aber in pädagogi-schen Prozessen nie weiter. An ihre Stelle tritt sinnvoller Weise die Bereitschaft zur Verantwortung. In der Reflexion mit den Studierenden wurde deutlich, dass es sich um ein sehr komplexes, zugleich mithilfe der » Entwicklungsorientierten Systemdia-gnostik « klar beschreibbares persönliches Entwicklungsproblem des Jungen han-delte.Die Theorie der Persönlichkeitsdynamik von Julius Kuhl kann an dieser Stelle nur verkürzt dargestellt werden.3 Sie beruht knapp formuliert auf der Interaktion von vier persönlichkeitsrelevanten Erkenntnissystemen einschließlich der mit ihnen 3 Der folgende Text wurde mit Julius Kuhl abgestimmt. Zur Einarbeitung in seine » Entwicklungs -orientierte Systemdiagnostik « vgl. Julius Kuhl: Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie. Motivation,