Klimawandel im Klassenraum 339 spricht offenbar wiederkehrenden Erfahrungen im Berufsalltag.9 Tanzprojekte sind ein ideales Labor für soziale Erkundungen verschiedener geschlechtsspezifischer Unterrichtszusammenhänge.Die » Struktur « der Klassengemeinschaft (im Sinne Pessos) bietet in allen Projekt-phasen Einblicke in die aktuelle Situation der Klasse. Im Unterrichtsalltag ist die räumliche Ordnung vorgegeben und oft scheinbar unveränderlich. Den Verände-rungen, die als Verbesserungen empfunden werden, stehen daher Gewöhnungspro-zesse und Rollenzuschreibungen gegenüber, die lange in das Tanzen hineinwirken können und mächtig sind. Das betrifft auch die Sitzordnung im Klassenraum. Die Enge der Unterrichtsräume ist bei zu großen Klassen ein ernst zu nehmendes Pro-blem der gegenwärtigen Schule. Im Eifer der Gefechte kommt es den betroffenen Lehrern und Schülern oft gar nicht in den Sinn, dass die Konflikte sich einer Lösung nähern, wenn die Raum- und Sitzordnung geändert oder flexibler gestaltet wird (womit nicht selten alle ohne weiteres einverstanden wären). Es kommt nur aus Ge-wohnheit nicht zu den notwendigen Änderungen. Unsere Tanzprojekte finden in der Regel in Turnhallen oder größeren Veranstaltungsräumen der beteiligten Schu-len statt. Manchmal verteilen sich Studierende mit den Kindern in Gruppen auf un-terschiedliche Arbeits- oder Gruppenräume und kommen erst am Ende der verein-barten Unterrichtsphase im Plenum zusammen, um Ergebnisse zu präsentieren oder die weitere Vorgehensweise zu besprechen. In allen Fällen sind räumliche Po-sitionen und Blickrichtungen von Kindern, und ihre Möglichkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, flexibel und gestaltbar. Sie ändern sich beim Tanzen bestän-dig. In wenigen Minuten können Tanzerfahrungen zu Besserungen beitragen, die bei starrer Klassenordnung Jahre dauern oder gar nicht zustande kommen.Die Kinder können sich im Raum als Gemeinschaft neu strukturieren. Das be-deutet nicht Chaos, führt aber vorübergehend zur Verunsicherung. Konflikte in Tanzprojekten zeigen im Schulalltag Merkmale typischer Unsicherheiten von Kin-dern, die ihren Platz in der Klassengemeinschaft noch nicht finden konnten. Diese Kinder fragen nicht nach einem sicheren Ort, an dem sie sich angemessen beachtet fühlen und andere Personen und die Gruppe wahrnehmen und erkunden können. Ihnen ist dieses grundlegende Bedürfnis gar nicht bewusst. Ist das Problem aber er-kannt und der sichere Ort gefunden, so vergrößert sich die Chance auf einen allen als gelungen erscheinenden Unterrichtsalltag. Schulen sind, wie der dänische Autor vieler Bücher zu Familie und Erziehung, früherer Lehrer, Sozialpädagoge und Fa-milientherapeut Jesper Juul in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zei-tung für Familien formuliert » dazu da, dass alle Mitglieder so viel wie möglich von dem bekommen, was sie brauchen, und so wenig wie möglich leiden. Wenn das ge-lingt, geht es allen gut « .10 Die Schule ist dazu da, dass in ihr alle Kinder so viel wie möglich von dem bekommen, was sie für ihre schulische, persönliche und spätere 9 Vgl. hierzu das Kapitel » Die Eroberung des Büros – oder: Was ein Territorium für Männer bedeutet « , in: Peter Modler: Das Arroganz Prinzip, Frankfurt am Main 32009, S. 17f.10 Jesper Juul: Frankfurter Allgemeine Zeitung von Donnerstag, dem 10. März 2011, Nr. 58, Seite 9.