360 Jürgen Oberschmidt Erst die einsetzende E-Gitarre verdeutlicht im Nachhinein, dass der Glockenton synkopisch aufzufassen ist: Der Hörer horcht also in die Folge der Glockentöne hin-ein, konstruiert sich ein metrisches Gefüge, das in diesem neuen Kontext nun jedoch ganz anders zu dechiffrieren ist. Wilfried Gruhn bezeichnet dies in Anlehnung an Edwin E. Gordon als » Audiation « , ein Vorgang, bei dem wir gehörten Klängen kei -ne Informationen entnehmen, sondern ihnen selbst Bedeutungen hinzufügen: » Die-ses beziehende Denken, das die realen Impulsfolgen hörpsychologisch strukturiert, muss vom Hörer geleistet werden und geschieht in seinem Bewusstsein. Es handelt sich um eine vom Hörer zu leistende Aktivität, die die akustische Schlagfolge erst zu einer musikalischen Gestalt macht.« 30 In elementarster Weise wird hier erfahrbar, dass jeder einzelne Grundschlag der Glocke über die augenblickliche Empfindung das enge Fenster der Gegenwart öff-net und über den Moment hinausführt: » In der Musik, so wird vielfach gesagt, ist dasjenige, was als Jetzt erfaßt wird, stark ausdehnbar. Es gibt viel längere Phasen des Präsens. Darin liegt eines der Glücksmomente des Musikalischen: in der Aus-dehnung der Gegenwart « .31 Was wir im Moment hören verbindet dieses beschränk-te Festhalten der Gegenwart, des gerade Vergangenen und ein Antizipieren des Zu-künftigen.Die Phänomenologie hat für diese » erweiterte Gegenwart « 32 die Begriffe Reten-tion 33 und Protention 34 geprägt: » Musikalische Wahrnehmung, die über das Erfas-sen isolierter akustischer Daten hinausreicht, wäre undenkbar, wenn nicht das un-mittelbar Vergangene bewahrt würde « .35 Die Erfahrung des Verschwindens Spürbar wird, wie der Hörer eine durch den Glockenton vorgegebene Bahn durch-misst und von ihrer monotonen Klangfolge getragen wird, bis sie durch Neues – hier durch Eintritt des Klaviers und der übrigen Instrumentalstimmen – eine quali-tative Veränderung erfährt. Zeit lässt sich also gestalten und durch diese äußeren 30 Wilfried Gruhn: Der Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des musikalischen Denkens, Hö-rens und Lernens, Hildesheim u. a. 2005, S. 86f.31 Simone Mahrenholz: Logik, A-Logik, Analogik. Musik und die Verfahrensformen des Unbewußten, in: Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, hrsg. von Richard Klein u. a., Weilerswist 2000, S. 379–398, hier S. 391.32 Dahlhaus: Musikästhetik, S. 114 (s. Anm. 2).33 » Retention gehört innerhalb der Husserlschen Zeitanalyse des immanenten Bewußtseins zur ›absolut starken Gesetzmäßigkeit‹, mit der ein momentaner Eindruck noch in ›frischer‹ Erinnerung gehalten werden kann, so wenn beispielsweise ein Ton, der soeben verklungen ist, noch als derselbe im Be -wußtsein festgehalten wird « (Helmuth Vetter (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg 2004, S. 464).34 » Protention ist bei Husserl der Titel für erwartungsartige Intentionen des Kommenden […] eine Vor-stellung zweiter Stufe, denn sie ist nichts leibhaft Wahrgenommenes, sondern […] Antizipiertes von Seiendem vor dem Wirklichsein « (Vetter: Wörterbuch, S. 438f.; s. Anm. 33).35 Dahlhaus: Musikästhetik, S. 113f.