Mozart – Hummel – Chopin. Zur Tradition der Sonatenform 365 An anderer Stelle schreibt Szymanowski über diesen Cherubin: Diese Musik [Mozarts] mit ihrer ungewöhnlichen, gleichsam südländisch wir-kenden Leichtigkeit, tief verwoben mit der ihr eigenen transparenten Tiefe der absoluten formalen Vollkommenheit, scheint in hartem nicht rostenden Erz zi -seliert zu sein. Der Schaffensprozess vollzog sich bei Mozart quasi außerhalb des unmittelbaren inneren Erlebens. Nach dem Vorbild Benvenuto Cellinis […] hielt Mozart sein Werk in der Hand, vor seinen voller schöpferischer Freude lächelnden Augen, modellierte es sorgsam und kritisch, um ihm dann die unzweifelhaft endgültige Gestalt zu verleihen – ganz gleich, ob es eine Symphonie, die Hochzeit des Figaro oder ein kleines Lied war, immer war die Form gleich vollkommen.5 Auch wurde Chopin mit einem Bildhauer verglichen, z. B. in dem Gedicht » Forte-pian Chopina « [Chopins Flügel] von Cyprian Kamil Norwid, der von einer » peri-klesartigen Vollkommenheit « sprach. Und Jan Karłowicz schrieb über Chopin im Jahre 1899:Einzig Chopin verwirklichte in seinen Werken seinen unerschöpflichen Grund-satz der künstlerischen Schöpfung, welcher die Schönheit und deren Größe in jeder Richtung bedingt und in den beiden Worten des griechischen Weisen enthalten ist: medén âgan – nicht zu stark, ohne Übermaß; er allein kannte die-ses wunderbare Maß, diese außergewöhnliche Abgeschlossenheit der Form, die phidiasartige Abrundung und Mäßigung, die griechische Vollkommen-heit, der nichts hinzuzufügen ist und nichts entnommen werden darf. Diese schöpferische Mäßigung und die ausgleichende Vollendung sind in der Musik äußerst schwierig, viel schwieriger als in anderen Kunstgattungen. Selbst bei Mozart erkannte er in einigen Werken eine gewisse Langatmigkeit, Bana-lität und meinte, dass » nur Chopin das wahrhaft griechische Maß kannte, ein Ge-spür dafür hatte und nichts Unvollkommenes in die Welt gesetzt hat « .6 Es scheint, dass im künstlerischen Werk beider Komponisten, ganz unabhängig von den stilis-tischen Unterschieden, etwas von einem Ideal enthalten ist. Szymanowski war es, der feststellte, dass die Begriffe » Klassiker « bei Mozart und » Romantiker « bei Cho-pin unwichtig seien, ihre Verwandtschaft gründe auf dem Geheimnis der Vollkom-menheit des Kunstwerks.7 Doch das Maß der Vollkommenheit ist unterschiedlich. Lucien Bourguès und Alexandre Denéréaz formulierten es wie folgt:5 Karol Szymanowski: Pisma. Band 1. Pisma muzyczne [Schriften. Band 1. Musikalische Schriften], hrsg. von Kornel Michałowski, Kraków 1984, S. 93 und 92.6 Jan Karłowicz: Chopin, Głos 1899, Nr. 42, S. 868, zit. nach Małgorzata Dziadek: Polska krytyka mu-zyczna w latach 1880–1914. Koncepcje i zagadnienia [Polnische Musikkritik in den Jahren 1880–1914. Konzeptionen und Probleme], Katowice 2002, S. 505.7 Szymanowski, op. cit., S. 91–92.