366 Irena Poniatowska Wenn es eine Musik gibt, von der man sagen könnte, dass sie das ›ewig Wäh-rende‹, den Fluss der seelischen Ereignisse ausdrücke, so ist es die Musik Cho-pins. Während die Kontinuität bei Mozart die Form eines intellektuellen Räso-nierens annimmt, das etwas Algebra-artiges an sich hat, vollzieht sich die Ent -wicklung bei Chopin auf vokalen und unvorhersehbaren Wegen der Intuition und zudem im durchaus traditionellen Rahmen der Metrik.8 Chopin nimmt in seinem Jugendwerk in einem gewissen Sinne Bezug auf Mozart und dessen Grundsätze, melodisch schöne Themen zu präsentieren, die durch figu-rative Abschnitte voneinander getrennt werden, jedoch auf andere Weise. Bei Cho-pin erfahren die musikalischen Gedanken eine Entwicklung, bewegen sich wellen-artig, steigen zum Höhepunkt auf. Bei Mozart folgen sie hingegen aufeinander, manchmal scheint sogar eine Überfülle zu herrschen, sie sind kurz und kompakt, » glänzen « in ihrer melodischen Gestaltung, zusammengestellt nach dem Grundsatz der Addition von 2+2, 4+4 Takten, wobei manchmal der erste oder zweite Teil in veränderter Form wiederholt wird. Am besten lassen sich diese Prozesse am Bei-spiel der Sonatenhauptsatzform, genauer der Themen der Exposition, aufzeigen. Es sei daran erinnert, dass zu Zeiten der Klassik verschiedene Schemata der So-natenform Anwendung fanden. Mozart war, besonders in den Klaviersonaten, dem Modell zugeneigt, das italienisch genannt werden könnte. Kennzeichnend war das Exponieren von kantilenenartigen Themen mit figurativen Einschüben, wobei die letzteren quasi Verbindungselemente waren. Dieses Modell wurde später von den Vertretern des » brillanten Stils « übernommen. Anders sah hingegen das Modell aus, das in einer gewissen Vereinfachung deutsch genannt werden könnte und das zu Beethoven führte, mit einem deutlicheren Dualismus der Themen hinsichtlich ih-res Ausdrucks und Charakters sowie einer Verarbeitung der Themen, deren Anzahl zumeist auf zwei beschränkt war. Teilweise nahm er Bezug auf Haydn, obwohl er unterschiedliche Typen der Sonatenform » praktizierte « ; manchmal waren beide Themen des Kopfsatzes substanziell miteinander verwandt, obwohl sie sich in ih-rem Charakter unterscheiden konnten. Zur Grammatik der Sonatenform gehörten aber dieselben tonalen Grundsätze, die in all ihren Typen vorkamen, d. h. die Be-rücksichtigung zweier thematischer Ebenen in der Relation Tonika – Dominante oder Tonikaparallele. Manche Theoretiker verglichen den Beethovenschen Typus der Sonatenform mit den Grundsätzen, die Dramen eigen waren, so u. a. Antonin Reicha im » Traité de haute composition musicale « aus dem Jahre 1826. Bei der Be-sprechung des Stils der Wiener Klassiker weitete Charles Rosen deren Wirkungs-kreis generell auf die klassische Form aus und behauptete, dass der dramatische Af-fekt im Barock durch die dramatische Aktion in der klassischen Form ersetzt wor -den war. Daher benötige man keine besonderen Themen voller melodischer oder harmonischer Energie, um ein dramatisches Musikwerk zu gestalten, denn die 8 Lucien Bourguès, Alexandre Denéréaz: La musique et la vie intérieure. Essai d’une histoire psycholo-gique de l’art musical, Paris-Lausanne 1921, S. 433.