Mozart – Hummel – Chopin. Zur Tradition der Sonatenform 367 Form selbst berge das Drama.9 Doch die kompakten, kantilenenartigen Themen, die laut der Klassifizierung von Hans Mersmann zum Typus der Flächenmelodik zu zählen sind,10 sind im Prinzip für Entwicklungsprozesse nicht offen. Die Themen bilden ein geschlossenes Ganzes, unterliegen eher einer Variations- als einer thema-tischen Verarbeitung. Aus diesem Grund ist das » Drama « , das in der Sonatenform begründet ist, in den Sonaten Mozarts und Beethovens vollkommen andersartig. Bei Mozart haben wir es eher mit einem » Divertissement « , einem Nebeneinanderreihen von schönen Melodien und nicht so sehr mit einem dramatischen Spannungsver-hältnis zwischen den Themen, ihrer melodisch-harmonischen Entwicklung in Durchführung und Reprise zu tun, nach der manchmal, z. B. bei Beethoven, noch eine Durchführung und eine Coda folgen. Bei der Erörterung des Problems und sei-ner theoretischen Natur werde ich mich auf italienische Theoretiker berufen und das deutsche Schrifttum über die Gattung der Sonate und die Entwicklung der So-natenform außer Acht lassen, die ich selbst ebenfalls schon oft untersucht habe.11 Es handelt sich um Francesco Galeazzis Werk aus dem Jahre 1796, in dem er folgende Elemente in der Exposition der Sonatenform unterschied: Preludio, Motivo princi-pale und Secondo motivo in der Tonika, dann Uscita di Tono (modulierendes über-leitendes Bindeglied), Passo caratteristico o Passo di mezzo (eine Art Seitenthema), Periodo di cadenza (Schlussfragment, eine Art Epilog), Coda in der Dominante.12 Es handelte sich um eine binäre Form mit mehreren Themen, einer modulierenden Entwicklung und einer Reprise im zweiten Teil. Doch Galeazzi betrachtete das Gan-ze als Einheit in der Vielfalt, denn er postulierte die substanzielle Beziehung aller formalen Elemente zum motivo principale. Carlo Gervasoni wiederum schreibt von der Wahl einer klar gestalteten Melodie, welche die Rolle eines motivo principale übernehmen kann, sowie von der Teilung der Phrasen, dem angemessenen Propor-tionen zwischen ihnen – soweit also in einer ähnliche Weise –, doch er präzisierte die einzelnen Formelemente anders als Galeazzi es tat.13 Schon Bathia Churgin lenkte im Jahre 1968 das Augenmerk auf die Theorie Galeazzis, später tat es Sieg-fried Schmalzriedt im Jahre 1985;14 Donald Francis Tovey kam im Zusammenhang mit dem freieren Ablauf der musikalischen Themen zum Schluss, dass es keinerlei Regeln hinsichtlich der Zahl und der Verteilung und Trennung der Themen in der 9 Charles Rosen: Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven, Kassel 1983, S. 45 und 82. 10 Heinrich Mersmann: Angewandte Musikästhetik, Berlin 1926; Die » Flächenmelodik « geht bei größe-rem Gestus und gesteigerter Intensität in die » kantabile « und die » Ausdrucksmelodik « über (S. 126–132).11 Siehe Irena Poniatowska: Zur Genese der Sonatensatzform in der Musiktheorie des 18. und ersten Hälf -te des 19. Jahrhunderts, in: Contexts of Muscicology, Band 2, hrsg. von Maciej Jabłoński u. a., Poznań 1998, S. 73–92.12 Francesco Galeazzi: Elementi teorico-pratici di musica, Band 2, Roma 1796.13 Carlo Gervasoni: La scuola della musica, Teil 3, Piacenza 1800.14 B. Churgin: Francesco Galeazzi’s Description (1796) of Sonata Form, JAMS 21 (1968); Siegfried Schmalzriedt: Charakter und Drama. Zur historischen Analyse von Haydnschen und Beethoven-schen Sonatensätzen, in: AfMw 42 (1958), H. 1. Ich wiederhole einige Informationen, um die Ausfüh-rung klar zu machen, obwohl ich im erwähnten Artikel darüber schreibe (vgl. auch Andrzej Chod-kowski, Anm. 16).