368 Irena Poniatowska Sonatenhauptsatzform gebe,15 besonders gelte dies für die Klassik und die Früh-romantik. In jener Zeit kommt der Begriff des Themensatzes bzw. thematischen Par-tie auf (in Bezug auf einige Komponisten der Romantik kehrt der Begriff der The-mengruppen bzw. thematischen Ebenen zurück), der sowohl das Haupt- als auch das Seitenthema betrifft. Man sollte Galeazzi nicht nur wegen des fundierten Be-wusstseins der Sonatenform in Erinnerung rufen (obwohl dieser Begriff damals nicht verwendet wurde, man schrieb von dem Sonaten-Allegro), sondern sich auch wegen des umfassenderen mehrgliedrigen und polythematischen Verständnisses der Form auf ihn berufen, welches dem Entwicklungsverlauf bei Mozart und später demjenigen bei Vertretern des » brillanten Stils « entspricht. Das Preludio, d. i. die kurze Einleitung, wird von anderen Theoretikern, selbst italienischen, nicht erwähnt, auch von dem schon genannten Carlo Gervasoni nicht. Es kam vor allem in Symphonien, manchmal in der Kammermusik und in Konzer-ten vor. Aber die Tatsache, dass die Themen, das Haupt- und das Seitenthema, aus mehr als einem musikalischen Gedanken bestehen konnten, wurde zum Ausgangs-punkt der Erwägungen über die thematische Gestaltung der Exposition der Sona-tenform bei Mozart. Andrzej Chodkowski analysierte mehrere Sonaten Mozarts und Haydns auf der Basis von Galeazzis Theorie, so u. a. den 1. Satz der Sonate F-Dur KV 332 von Mozart, und zwar als eines der Beispiele für das Nebeneinandersetzen zweier Themen in der Tonika.16 John Irving, der den Mozartschen Sonaten eine Mo-nographie hauptsächlich aus der Sicht der musikalischen Rhetorik widmete, be-schreibt die Exposition als eine Art » narratio « in der rhetorischen » dispositio « der musikalischen Aussage.17 In den ersten und den Finalsätzen seiner Sonaten expo-niert Mozart, so die Ansicht Irvings, sieben oder acht gesonderte musikalische Ge-danken, von denen die meisten im Prinzip zur Ebene der Dominante oder Tonika-parallele (in Moll-Tonarten) gehören. In der schon zitierten F-Dur Sonate erkennt Ir-ving nicht nur zwei Themen, die in der Tonika nebeneinandergestellt wurden, son-dern auch sechs melodisch differenzierte Themen in der Dominante, wobei aber hinzuzufügen ist, dass wir es zweimal mit Varianten zu tun haben. Irving schreibt, dass Mozart in diesem Satz ausnahmsweise eine tonale Abschweifung vornimmt, denn er » wandert « im Takt 23 zur Funktion der Tonikaparallele. Es scheint aber, dass es sich hier um eine erweiterte Kadenz handelt, mittels welcher der Komponist sich zur Dominante » fortbewegt « , er geht nämlich zur Moll-Dominante (c-Moll), zu ihrem Leittonakkord (As-Dur) über und setzt dann einen Nonenakkord mit vermin-derter Quinte (d fis as c es) zur Dominante ein. Der erste Satz der C-Dur-Sonate KV 330 enthält drei oder vier kontrastierende Themen im Anfangssatz in der Tonika und beim Übergang zur Dominante sowie nicht weniger als sechs Themen in der 15 D. Francis Tovey: The Forms of Music, 5. Aufl., London 1959, S. 210.16 Andrzej Chodkowski: Teoria formy sonatowej Francesco Galeazziego i jej zastosowanie do analizy dzieł Haydna i Mozarta [Die Theorie der Sonatenform von F. Galeazzi und ihre Anwendung in der Analyse der Werke Haydns und Mozarts], Muzyka 1991, Nr. 4, S. 69–76. Er präsentiert auch » Motivo principale « und » Secondo motivo « im III. Teil der Sonate F-Dur KV 332.17 John Irving: Mozarts Piano Sonatas, Contexts, Sources, Style, Cambridge 1997, S. 121.