Mozart – Hummel – Chopin. Zur Tradition der Sonatenform 373 Laut den Grundsätzen Galeazzis kann das Secondo motivo in seinem Verlauf gleichfalls einen modulierenden Übergang bilden und eine Überleitung ersetzen. Es kann auch eine Überleitung zwischen den Themen auftreten, aber ohne modulie-rende Merkmale, somit übernimmt es die Rolle eines unterbrechenden Einschubs. Manchmal moduliert die Überleitung in die Dominanttonart, aber das Seitenthema (Passo caratteristico) wird ausgelassen, es folgt ein Übergang zum Epilog-Thema, zur Periodo di cadenza. Galeazzi veranschaulicht diese Phänomene vor allem an-hand von Kammermusik aus seiner Epoche.22 Ein erweiterter Seitensatz kommt u. a. in der zweiten Sonate F-Dur für Cembalo oder Klavier und Violine von J. Cer -vellini vor. Nach dem Seitenthema in C-Dur taucht noch ein Thema in c-Moll auf, erst danach folgt der Epilog mit einer gesonderten Codetta. Mit einem solchen Fall haben wir es in der C-Dur-Sonate op. 2, Nr. 3 von Beethoven zu tun, in der zwei Sei-tenthemen in umgekehrter Reihenfolge, zuerst in g-Moll und dann in G-Dur, auftre-ten. Das Abschweifen in die Moll-Dominante bildet eine Fortsetzung, eine Erinne-rung an harmonische Phänomene der Frühklassik. Unabhängig davon, ob wir bei Mozart ausschließlich das Anfangsthema in der Tonika als Hauptthema und den ersten Musikgedanken in der Dominante als Sei-tenthema ansehen und dabei andere thematische Gedanken als deren Ergänzung oder Entwicklung außer Acht lassen oder aber die Exposition des Allegro in den Mozartschen Sonaten als ein Aneinanderreihen vieler melodisch gestalteter Themen auffassen, die nach zwei harmonischen Funktionen polarisiert sind, scheint es, dass die Theorie der Sonatenform aus dem 19. Jahrhundert, die von Adolf Bernard Marx untermauert wurde,23 auf Mozart nicht zutrifft. Wie Schmalzriedt richtigerweise festgestellt hat, kann man zu Ende des 20. Jahrhunderts (heute schon zu Anfang des 21.) Werke aus dem 18. Jahrhundert nicht mittels Methoden aus dem 19. Jahrhun-dert analysieren.24 Deswegen spiegelt die Theorie von Galeazzi aus dem Jahre 1797, die im 1. Satz der Sonate, d.h. im Allegro, eine unbeschränkte Anzahl an Themen, die freie Art ihrer Zusammenstellung, einen sehr unterschiedlichen Charakter der Überleitungen und des Epilogs zulässt, viel besser den damaligen Stand der Ton-kunst wieder, sie zwingt der Sonatenform keine steifen Regeln auf. Die Theorie ist das Ergebnis der Analyse der Musik-Wirklichkeit und kein Modellvorschlag. Es ist klar, dass eine frei konstruierte Exposition, in der die Themen aneinandergereiht sind, sich auf den weiteren Verlauf, den 2. Teil der Sonatenform, auswirkt, doch das ist nicht Gegenstand meiner Erwägungen. Dank seines schier unerschöpflichen melodischen Ideenreichtums hielt sich Mo-zart eigentlich nicht an die Anforderungen Galeazzis hinsichtlich der substanziellen Einheit der Themen. Es ist gleichfalls hervorzuheben, dass seine Themen mehrheit-22 Galeazzi hat die Werke von Boccherini, Vanhall, Pichl, Pleyel u. a. gewählt. In meinem zitierten Arti-kel (Zur Genese…, s. Anm. 11) analysiere ich verschiedene Lösungen in den Hauptsätzen der Sona -ten dieser Zeit (S. 83–86).23 Arnold Bernard Marx: Kompositionslehre, Band 2, Leipzig 1838 (» Die Sonatenform « ) und auch: All-gemeine Musiklehre. Ein Hilfsbuch für Lernende in jedem Zweige musikalischer Unterweisung, Leipzig 1841 (» Sonatenform « ).24 Schmalzriedt: Charakter und Drama, S. 38 (Anm. 14).