374 Irena Poniatowska lich gesanglich sind. Dies trifft sogar auf die Figurationen zu. Unter den von Galeaz-zi genannten Autoren hat Pleyel in seiner e-Moll-Sonate die Einheit der Substanz konsequent verwirklicht, denn das Hauptmotiv des Hauptthemas durchdringt im Kopfsatz alle formalen Elemente. Bei Mozart herrscht der Grundsatz der Varietas vor, seine Sonatenhauptsatzform kennzeichnet eine spezifische Form und ein be-sonderer Ausdrucksgehalt. Welche Auswirkungen hatte die Mozartsche Gestaltung der Sonatenhauptsatz-form auf die nachfolgende Komponistengeneration? Wie schon erwähnt, knüpften die Komponisten des » brillanten Stils « in den Sonaten und vor allem in den Konzer-ten an Mozart an. Das Aufeinanderfolgen von sentimental-ornamentalen Kantile-nen-Themen, die mittels virtuosen Einschüben voneinander getrennt werden, ent-sprach der bürgerlichen Ästhetik zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Françoise Escal schreibt, dass um das Jahr 1830 von einer Art Revolution der Instrumentalisten ge-sprochen werden kann, die sich in einem gewissen Sinne gegen die Dominanz der Musik wandte – es bestand nun die Notwendigkeit, mittels Fingerfertigkeit zu bril-lieren und die Idee und die Form der Musik büßten an Bedeutung ein. Der Virtuose sollte das Publikum in Erstaunen versetzen und mitreißen.25 Einerseits wurden die Sentimentalität, andererseits die Zurschaustellung zu den obligatorischen Elemen-ten des Konzerts, besonders trifft dies auf den Kopfsatz, d. h. die Sonatenform, zu. Diese Elemente übten eine starke Wirkung auf das Publikum aus. Auf der Tonika-ebene wurden zwei bis drei kantilenenartig-ornamentale Themen konstruiert, die von figurativen Abschnitten unterbrochen wurden; auf der Dominantebene oder in der Tonikaparallele (bei Moll-Tonarten) wurden zumeist ein gesangliches Thema, bisweilen auch zwei, und ein virtuoser Abschnitt exponiert. Die Themen in der So-natenhauptsatzform im » brillanten Stil « waren somit nicht gegensätzlich. Sowohl das Hauptthema als auch das Seitenthema zeichnete der gleiche Konstruktions-grundsatz aus, der Unterschied beruhte darauf, dass auf der Ebene des Hauptthe-mas die Anzahl der kantilenenartigen und virtuosen Fragmente größer sein konnte. Es kann somit von dem sog. Dualismus der Themen, die hinsichtlich ihres Aus-drucksgehalts gegeneinander gesetzt wären, nicht die Rede sein. Das Virtuosentum durchdrang die Sonatenhauptsatzform des Konzerts in einem solchen Maße, dass die Kadenz des Solisten, die zu Ende des ersten Satzes des klassischen Konzerts auf einer Fermate eingesetzt wurde, nicht mehr benötigt wurde. Die Bezeichnung » bril-lant « war nicht nur eine Spielanweisung und ein Zusatz zum Titel von Werken, in denen die Instrumentaltechnik besonders entwickelt war (z. B. Rondo brillant, Polo-naise brillante usw.), sondern eine Stilbezeichnung, die sich in der Hauptsatzform der Sonate und des Konzerts niederschlug und eine bestimmte Entwicklung der Form bezeichnete. Józef M. Chomiński unterstrich dies in seinen » Formy mu-zyczne « .26 25 Françoise Escal: L’artisanat furieux, in: Défense et illustration de la virtuosité, hrsg. von Anne Penes-co. Lyon 1997, S. 188. 26 Józef M. Chomiński: Formy muzyczne [Musikalische Formen], Band 2: Wielkie formy instrumentalne [Große Instrumentalformen], Kraków 1987, S. 707–709.