444 Friederike Ramm Die widersprüchliche Rezeption des Es-Dur-Quintetts Die geringere Wertschätzung oder vielleicht auch die Sprachlosigkeit darüber, wie man dieses Werk zu verstehen hat, zeigt sich oft schon in der Länge der Bespre-chungen: So widmet Abert KV 515 vier Seiten Beschreibung und KV 516 sogar fast fünf. Dagegen wird KV 593 mit gut zwei Seiten bedacht und KV 614 mit nur ei-ner.189 Noch extremer sind die Proportionen bei Charles Rosen: Die Bemerkungen zu KV 515/516 umfassen in der deutschen Taschenbuchausgabe (ohne Notenbei-spiele, aber mit Exkursen) jeweils gut sechs Seiten, wohingegen KV 593 auf dreiein-halb Seiten besprochen wird und KV 614 wiederum auf nur einer, die noch dazu wenig zur Musik sagt, dafür umso mehr über die Bezüge zu Haydn.190 Jeffrey Stokes, wohl der erste, der dem Es-Dur-Quintett eine eigene Publikation gewidmet hat, kritisiert die Vernachlässigung des Werkes in der Forschungsliteratur – mit ih-rer Tendenz » to damn Mozart’s last quintet with faint praise « .191 Ein Grund für die zum Teil erfolgte negative Einschätzung dieses Werkes könn-te sein, dass an ein ›Spätwerk‹ gewisse Erwartungen geknüpft wurden:[…] généralement, on reconnaît, tout d’abord, en elles [den Spätwerken allge-mein], une tendance vers la méditation solitaire, presque toujours exempte de tout élan passionné, et aussi, grâce au summum atteint par la technique, ou ce que l’on nomme le » métier « , une sorte de complaisance à ne traiter que des su-jets de pur intellect, que l’on désigne assez facilement par le mot de jeu de l’es-prit.192 Dagegen sieht Saint-Foix in Mozarts letztem Kammermusikwerk, das er – wie auch das Schwesterwerk –, als Ziel der gesamten Kammermusik Mozarts begreift, eine geradezu franziskanische Heiterkeit, » une allégresse mystique, que l’on a très juste-ment qualifiée de ›franciscaine‹« ,193 und beschließt seine Besprechung mit einer zu-gespitzten Formulierung über das umgekehrt proportionale Verhältnis von Geist und Materie in diesem Quintett: » [s]a richesse spirituelle est en proportion inverse de sa pauvreté matérielle « .194 Dass in der Tat – etwas weniger philosophisch ausgedrückt – gerade der Ver-zicht auf formale Auffälligkeiten und die radikale Beschränkung in der Thematik die Basis für Mozarts Meisterschaft in der satztechnischen Gestaltung und der Va-riation feinster Details bilden, klingt auch bei Tilman Sieber an. Und auch er bezieht die besondere Faktur dieses Quintetts mit seinem » Reichtum an Klangkombinatio-189 Abert: Mozart, Bd. 2, S. 383–392 und S. 720–723 (s. Anm. 8).190 Rosen: Der klassische Stil, S. 302–327 (s. Anm. 10). Auch Cleary widmet KV 593 dreimal so viel Text wie KV 614 (und KV 516 doppelt so viel wie KV 515); The D-Major String Quintet, S. 23–29 (s. Anm. 14).191 Stokes: Motivic Unity in Mozart’s String Quintet, K. 614, S. 22 (s. Anm. 118).192 Saint-Foix: Mozart, Bd. 5, S. 199 (s. Anm. 13).193 Ebd., S. 199.194 Zitat von M. C. Girdlestone: Mozart et ses Concertos de pianos, Bd. 2, S. 510f.; zit. bei Saint-Foix: Mo-zart, Bd. 5, S. 205 (s. Anm. 13).