458 Wolfgang Ruf Menschheit hervorgeht. Den gleichen Gedanken vertraten schon die nach den napo-leonischen Kriegen in Europa entstandenen Friedensgesellschaften, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf internationalen Kongressen zusammenfanden und ab 1867 zur » Ligue internationale de la paix et de la liberté « vereinigten; 1891 wur-de in Bern das » Internationale Friedensbüro « eröffnet. Im selben Jahr entstand die » Österreichische Friedensgesellschaft « mit Bertha von Suttner als Präsidentin (bis zu ihrem Tode 1914), und 1892 wurde in Berlin die » Deutsche Friedensgesellschaft « gegründet. Die pazifistische Gesinnung entsprach einer verbreiteten Stimmung und erhielt verstärkte Impulse durch die Arbeiterbewegung, die die bedingungslose Friedensbereitschaft mit der Forderung nach einer Umgestaltung der Gesellschaft verband.Zur Entstehungszeit von Schönbergs Chor (1906/07) hatten sich die politische Si-tuation und die Kriegsgefahr in Europa noch zugespitzt durch den ungehemmten Imperialismus der Großmächte, ihre Machtkonkurrenz und ihr Wettrüsten, den na-tionalen Chauvinismus und die innenpolitischen und sozialen Spannungen in Russ-land und in Österreich-Ungarn. Die Krise der internationalen Ordnung setzte sich innerhalb der Staatengebilde fort. Im habsburgischen Vielvölkerstaat entstanden heftige Konflikte zwischen Adel, Bourgeoisie und Arbeiterschaft sowie zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen.26 Aufgrund der Unlösbarkeit des Na-tionalitätenproblems zeichnete sich hier schon zwischen 1903 und 1905 der Unter-gang des Gesamtstaats ab. In Wien und Prag gab es 1905 blutige Massendemonstra-tionen in der Nachfolge der Revolution in Russland. Die Sozialdemokratie schürte den Kampf der Arbeiter und Bauern für die Gewährung des allgemeinen und glei-chen Wahlrechts und unterstützte einen dreitägigen Generalstreik in Wien, was im März 1907 die christlich-soziale Gegenpartei zum Aufruf veranlasste, den » vergif-tenden Kampf der Klassen « zu beenden. Auch die Verwirklichung der Wahlrechts-reform im Mai 1907 führte nicht zur Befriedung. Antisemitische, erzkonservative, ultra-klerikale und anti-klerikale Tendenzen machten sich allenthalben im Land und besonders im Schmelztiegel der Metropole breit. Ein Künstler von hoher poli-tischer Sensibilität wie Schönberg konnte von dieser explosiven Sachlage nicht völ-lig unberührt bleiben. Der Friedensappell des Meyerschen Gedichts traf nicht nur den Nerv einer im Umbruch befindlichen, verunsicherten Zeit. Er muss einer tiefen Sehnsucht des Komponisten entsprochen haben.26 Helmut Rumpler: Österreichische Geschichte 1804–1914: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsgewalt in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, bes. S. 549–560.