460 Wolfgang Ruf Die Führung der einzelnen Stimmen gehorcht weitgehend, aber nicht aus-schließlich den von Schönberg selbst gelehrten melodischen Grundregeln des Kon-trapunkts (Mischung und Balance von Stufenbewegung und Sprüngen, Vermeiden von gebrochenen Akkorden, einfachen oder » zusammengesetzten « dissonanten Sprüngen und mehreren gleichgerichteten Sprüngen). Für den Vorwurf des Nicht-Melodiösen gibt es bis auf einige kleinräumige Chromatismen und gelegentliche bildhaft oder gestisch erklärbare Intervallsprünge keinen Anlass. Die Unabhängig-keit der Stimmen voneinander wird in gleicher traditioneller Weise durch Gegenbe-wegung, Imitation und Einschränkung von Parallelführungen gewährleistet. Die er-öffnende, aus Vorder- und erweitertem Nachsatz (4+6 Takte) bestehende und lied-haft wirkende Melodie des Tenors (a) wird zu Beginn der vierten Strophe wieder-holt, die die Funktion einer Reprise erfüllt (T. 100ff.). Die Melodie wird umrankt von einem im Sopran und Bass imitierenden und vom Alt kontrapunktierten Sog-getto (b: Sopran T. 1ff. / Bass T. 2ff.). Es kehrt in den späteren Strophen ebenso wie-der wie ein Terzfall-Quartsprung-Quintfall-Motiv, aus dem später ein Refrain mit dem Motto » Friede « geformt wird (r: Bass T. 11/12, Sopran/Alt T. 21/22). Mit dem vorigen durch ihr anfängliches Umspielen des Terzintervalls eng verwandt sind zwei weitere Soggetti (c: Alt/Sopran T. 43ff., Tenor/Bass T. 44ff.; d: Sopran/Alt/Tenor/Bass T. 53–56ff.). Die dritte Strophe wird bestimmt durch die scheinimitatori-sche Schichtung von Melodielinien, die motivisch aus dem für alle Themen des Chorsatzes konstitutiven Intervall der kleinen Terz herauswachsen. Das Initialmo-tiv (e: Tenor T. 75ff.) erfährt in jeder Stimme eine andere Fortführung und steigern-de Ausweitung, wobei die Linie des Soprans (e1: Sopran T. 76ff.) mit ihrem Abstieg Halb-, Ganz-, Halbton (d 2 -cis 2 -h 1 -b 1) besonders hervorsticht und im Schlussteil noch eine weitere Variante e2 hervorbringen wird. Nach einer ersten Klimax schlägt die Erregung zu Beginn von T. 89 plötzlich in eine ruhige, vom Frieden-Refrainmotiv getragene Episode um.Das Refrainmotiv in Halbenoten-Werten, das die Assoziation eines viertönigen Glockengeläuts wachruft, stiftet Einheit nicht nur durch seine häufige Rekurrenz, sondern auch durch seine Abwandlungen, die auf den internen Intervallverhältnis-sen beruhen: fallende Kleinterz (Bass T. 10f.: e-cis), ganztönig gespreizt zur fallen-den Quint (fis-H), daraus resultierend die zwei Quarten (steigend cis-fis, fallend e-H). Als Varianten ergeben sich die unterschiedlichen zweiten Halbsätze des Re-frains (Bass T. 25–29, T. 70–75) oder die intervallischen bzw. rhythmischen Verände-rungen (Alt/Tenor T. 46–50, Sopran/Alt T. 59–65, Sopran/Alt T. 122–125, Alt/Bass/Sopran T. 134–148, Bass/Alt T. 151–156). Die rahmende Lied-Melodie, die kontra-punktierenden Soggetti und das omnipräsente Refrain-Motiv mit seinen Varianten bilden über das Werk hinweg ein extrem dichtes und geschlossenes Geflecht moti-visch-thematischer Beziehungen.