Entfaltung eines Motivkeims bei Felix Mendelssohn Bartholdy 477 werterweise nicht am Anfang, sondern erst am Ende des Satzes. Die Korrektur er-folgte in erster Linie im System der beiden B-Klarinetten:Notenbeispiel 10: Einleitung, T. 11–12, Fassung des Nachlassbandes 22, ante und post correcturam *Spätestens seit Arnold Schönbergs allerdings wenig systematischen Darlegungen zu seinem Konzept der » entwickelnden Variation « 11 hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die formbildende Qualität eines musikalischen Gedankens nicht allein auf des-sen Struktur, dessen Entwicklungspotential und die Häufigkeit seines Auftretens zurückzuführen ist, sondern dass dem Motiv auch durch den Ort, der ihm im musi-kalischen Diskurs zugewiesen wird, eine spezifische formbildende Bedeutung zu-wachsen kann. Richtet man nun den Blick erneut auf die Einleitung, so wird man der Tatsache gewahr, dass Mendelssohn die formale Funktion des Motivs A ändert – ein Aspekt, der für die Komponisten seit der Klassik von eminenter Bedeutung war: Das Motiv bildet nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende des Satzes, er-füllt mithin sowohl die Funktion des Öffnens als auch die des Schließens. Erneut zeigt sich hier eine chiastische Relation, die bereits in der Struktur des Motivs selbst erkennbar war. Mendelssohn hatte diese Anlage bereits ziemlich genau zwanzig Jahre zuvor, nämlich 1826, in seiner » Konzert-Ouverture zu Shakespeares Sommer-nachtstraum « op. 21 MWV P 3 erprobt, dort allerdings nicht anhand eines viertöni-gen Motivs, sondern aufgrund einer viergliedrigen Akkordfolge.12 Und diese gleichsam rahmenbildende Motivdisposition mag ihm wieder in den Sinn gekom-men sein, als er etwa drei Jahre vor dem Oratorium, nämlich 1843, an der » Musik zu Ein Sommernachtstraum « op. 61 MWV M 13 arbeitete, in die er die Konzert-Ou-vertüre am Anfang unverändert und am Ende in variativer Umformung integrierte.Auch hinsichtlich der formbildenden Funktion des Motivs A lässt sich in der Ge-nesis des Oratoriums eine mehrstufige Entwicklung erkennen. Sie vollzieht sich al-lerdings nicht in der Einleitung selbst, sondern in demjenigen Satz, der in der Mitte des ersten Teils plakativ auf die Einleitung Bezug nimmt; er trägt in der Endfassung die Nummer 10, seinen Frühfassungen sind die Ziffern 14a bzw. 14b zuzuordnen.11 Siehe dazu Christian Martin Schmidt: Das Klarinettenquintett op. 115. Oder: von der nicht ent-wickelnden Variation, in: Die Kammermusik von Johannes Brahms. Tradition und Innovation, hrsg. von Gernot Gruber, Laaber 2001, S. 275–283, insbesondere S. 280ff.12 Siehe dazu Christian Martin Schmidt: Signum der Geisterwelt. Die ominöse Kadenz in Mendelssohns » Konzert-Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum « op. 21, in: Wiener Musikgeschichte. An-näherungen – Analysen – Ausblicke. Festschrift für Hartmut Krones, hrsg. von Julia Bungardt u. a., Wien 2009, S. 265–276.