484 Gerhard Schmitt stav Mahler blieb nicht verschont. Dessen extrem verdichtete Tonalität – ein, wenn nicht der Geniestreich der Musik des frühen 20. Jahrhunderts – sie fand keine Gnade.Der Ruf als Eiferer und exaltierter Giftzwerg hatte ihn bald ereilt. Opfer einer Verballhornung zu werden, war nur eine Frage der Zeit: Schenker sei begabt und habe Fantasie, so Schönberg in seiner Harmonielehre über Schenker und dessen » Neue Theorien und Fantasien « .4 Das hat das Schenkerlager dann wiederum kom-mentiert und so fort. Erwiderungen auf Rezensionen in den Vorworten der Folge-auflagen sind nichts Ungewöhnliches, erinnert sei nur an de la Motte in der Neuauf-lage seiner Harmonielehre auf den Verriss durch Eggebrecht. Die teilhabende Leser-schaft, in aller Regel spezialisierte Fachkundige, folgt interessiert-amüsiert diesem Disput und wartet auf das, was womöglich an Veränderungen erwachsen mag. Auch Hindemith bekam in einem der Jahrbücher Schenkers sein Fett weg, was die-ser souverän-ironisch in einem Brief konterte. Aus diesem geht aber auch deutlich Respekt hervor, den Hindemith bereit war zu zollen für Schenkers theoretische Leistungen. Eine Veränderung hat es bei Hindemith nicht ausgelöst, auch gab es weiter keine Berührungspunkte mehr. Schönberg könnte man hingegen eher unter-stellen, sich noch weiter mit Schenker befasst zu haben, wie in seinen » Formbilden-den Tendenzen der Harmonie « durchschimmert.5 Die Lehre Schenkers war und ist in deutschen Lehrplänen eher eine Seltenheit und überwiegend in den angloamerikanischen Ländern anzutreffen. Hier aber mit Macht und immerhin gehandelt als der wichtigste Musiktheoretiker des 20. Jahr-hunderts und in einem Atemzug genannt mit Ferdinand Saussure und Noahm Chomsky 6 .Durch den Mut einzelner zur Spezialisierung werden neue Möglichkeiten ge-schaffen, in der Theoriebildung wie in der Schaffung praxisorientierter Systemati-ken. Das gilt auch für die Arbeiten Georg Lakoffs und Mark Johnsons, die den Be-griff der Metapher von der Spezialisierung der Wissensaneignung her angegangen sind und somit einen ganz neuen, interdisziplinären Wissenschaftszweig zu grün-den beigetragen haben, die kognitive Metaphernforschung.7 Deren Ergebnisse lassen sich wiederum weiterentwickeln und spezialisieren zu einer musikalischen Analyse-systematik. Oder anders, nur mit dem Mut des Entdeckers zur Fantasie schafft man neue Theorien. Fantasie haben auch Komponisten immer wieder bewiesen. Ihre Theorien zur Kompositionsweise entstehen in der Regel über die Jahre. Der Kompositionsstil von 4 Vgl. Heinrich Schenker: Neue musikalische Theorien und Phantasien, drei Bände, Bd. III, Der freie Satz, Stuttgart 1906–1935; Arnold Schönberg: Harmonielehre, Jubiläumsausgabe, Wien 1922/2001,S. 384. 5 Ein Gedanke, den Hellmut Federhofer äußert in: Heinrich Schenker (1868–1935) und Arnold Schön-berg (1874–1951) als Musiktheoretiker, in: StMw 43 (1994), S. 338; Vgl. Arnold Schönberg: Die Form-bildenden Tendenzen der Harmonie, Mainz 1954. 6 Michael Spitzer: Metaphor and Musical Thought, Chicago 2004, S. 2.7 Vgl. George Lakoff und Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 1998 (original: Metaphors We Live By, Chicago 1980).