Von der Sprache und ihren Konzepten in der musikalischen Analyse 485 Arvo Pärt ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein großes Anliegen einen vergleichswei-se nur kleinen theoretischen Unterbau benötigt, um ein adäquates Modell zu bilden. Das große Anliegen ist der tief empfundene Wunsch nach einem tonalen System, das auf einer beherrschbaren Einheit von Harmonik und Melodik beruht. Seit 1976 hat er sich diesen Wunsch durch seinen Tintinnabuli-Stil erfüllt. Der besteht aus dem ein- oder mehrstimmigen Zusammenspiel von Tintinnabuli- und Melodiestimmen sowie einem nachgerade dürren, aber höchst effektiven durmolltonalen Harmonie-gerüst. Der Einsatz der Stimmen richtet sich nach der Menge der Silben des Wortes im Text sowie dessen Interpunktion. Die Morphologie des Wortes dient schon fast plakativ zur Parametrisierung der klein- wie großformalen Struktur des Stücks.8 Die Hülle, nicht der Inhalt, wird vertont, oder besser gesagt, das Morphem wird zum systematischen Gestaltungsmittel.Abb. 1 Versus VII aus Arvo Pärt: Miserere für Soli, gemischten Chor, Ensemble und Orgel © Copyright 1989 by Universal Edition A.G., Wien/UE 30873, Ausschnitt S. 27.Wir sehen den Versus VII aus dem » Miserere « . Deutlich zu erkennen sind die Takte mit Pausen. Ihre Anzahl und Länge richtet sich nach der Anzahl der Silben und der Interpunktion des Textes (z. B. eine Pause bei einem Wort ohne Satzzeichen, zwei Pausen, wenn ein Komma folgt etc.). Die Harmonie besteht aus einem Zentralak-kord, dessen Töne als Tintinnabulistimme in Sprüngen erreicht werden; die Melo-diestimme hingegen schreitet. Dies ist das Wesentliche im Tintinnabuli-Stil, das Schreiten im Rahmen einer Tonleiter und das Springen im Rahmen eines einzigen Akkordes.9 Keine Kadenz mehr, keine Stufen, keine ariose Stimmführung.8 Vgl. Hermann Conen (Hrsg.): Arvo Pärt. Die Musik des Tintinnabuli-Stils, Köln 2006.9 Ebd., S. 44f.