Von der Sprache und ihren Konzepten in der musikalischen Analyse 489 sich in einem abstrakt-analogen System bilden. Nelson Goodmans Symboltheorie hilft höchst effizient dabei, diese zu differenzieren.Goodman unterscheidet drei Formen der Symbolfunktionen, die Denotation, die Exemplifikation und Ausdruck. Pärts Kompositionsweise wird durch ein doppeltes Metaphernmodell getragen. Zum einen ist es die Vorstellung des Glöckchenartigen, wie der Wortstamm tintinnabulum bereits erahnen lässt, der als sinnlicher Tragpfei-ler einer speziellen Idealisierung von Klang dient. Zum anderen ist es eine sehr pu-ristische, nachgerade kathartische Setzweise, bei der man ebenso gut von Under-statement sprechen könnte. Der Klang kleiner Glocken denotiert metaphorisch das Kommen und Gehen des Klangs mit seinem nahtlosen Übergang in die Stille, was man zum metaphorischen Konzept | KLANG-IST-STILLE| zusammenfassen kann. Der Tintinnabuli-Stil selbst denotiert buchstäblich einen Kompositionsstil von genui-ner Qualität, der weitere ästhetische Konzepte integriert, etwa EINFACHHEIT, ÜBERGANG, VERGEHEN etc. Wo aber sind die künstlerischen Metaphern? Sie geben sich in der Gesamtschau zu erkennen und bieten zudem eine Erklä-rung, wie Pärt trotz semantischer Entkernung der Wörter eine korrespondierende Klangsphäre schafft.Das » Dies Irae « ist das mit Abstand längste Stück im » Miserere « . Es erscheint völlig unvermittelt und mit großer Wucht in Dynamik und Orchestrierung.10 Es de-notiert metaphorisch ein unerwartetes Hereinbrechen und konzeptualisiert somit einen Teilaspekt des » Dies Irae « , was zugleich auch seine künstlerische Metapher ist. Das Konzept ZEIT wird hierin raffiniert weiter ausdifferenziert, etwa durch die Gleichzeitigkeit aller Stimmen. Am Ende in Dissonanz konserviert, exemplifiziert ein einzelnes Intervall in den Stabglocken metaphorisch das vernichtende Verdikt des Göttlichen Zorns. Die Klangaura ist auf die Unmittelbarkeit des Erlebens klang-licher und notationaler Symbole zurückzuführen. Die Musik Pärts vermag höchst wirkungsvoll jene Eigenschaften auszudrücken, die sie metaphorisch exemplifiziert und die man typischerweise der Kirchenmusik zuordnet. Ein solcher Ausdruck muss nicht erst verbalisiert werden, um ihn zu verstehen. Ein typischer Effekt für das Understatement in der Musik Pärts.1.3 Zur Entwicklung eines semantischen Analyseverfahrens für komplexe Klangkunst Früher oder später muss man Bedeutungen auch benennen. Eine individuelle Ver-stehenskultur mag und kann ausdrücklich, so Goodman, ohne Worte auskommen, eine Musiktheorie kann es nicht. Und wenn es nur darum geht, Studierende darin anzuleiten, was später in der Beherrschung der Materie, z. B. ein Schenkergraph oder vergleichbare Modelle, verschwiegen werden soll. Man muss nicht erklären, um zu verstehen, was in dem Musikbeispiel oben geschieht. Doch dient die systema-10 Ebd., S. 64.