494 Mieczysław Tomaszewski che Momente wie z. B. das » Heiligenstädter Testament « Beethovens aus dem Jahre 1802, wie der Text des unvergesslichen Bekenntnisses Schuberts in dem Brief an Kupfelwieser aus dem Jahre 1824 (über die unheilbare Krankheit) oder die erschüt -terten, im September 1831 nachts in Stuttgart als Reaktion auf die Okkupation von Warschau geschriebenen Seiten im » Tagebuch « Chopins.Hier entsteht also die Möglichkeit, den künstlerischen Lebenslauf als Narration (Erzählung) zu betrachten. Narration als Struktur betrachtet, ein wenig » nach dem Muster « , oder » in der Art « des Strukturierens z. B. eines Mythos (Claude Levi-Straus), des Märchens (Wladimir Propp), oder des literarischen Textes (Algirdas Greimas).4 Die genannten Momente würden dann die Knotenpunkte dieser Erzäh-lung bilden; zugleich bedeutende (durch ihr Gewicht differenzierte), wie auch – In-terpunktionsmomente. In dem narrativen Lebenslauf erfüllen sie analoge Funktio-nen wie sie bei der Interpretation des Musikwerkes die Phrasen und Akzente erfül-len. 2.Es ist selbstverständlich, dass die Zahl der hervorgehobenen Momente – dieser Äquivalente der bedeutungsvollen Erlebnisse – sich nicht auf eine geschlossene Größe beschränken lässt. Aber zugleich: wir haben es hier mit einer bestimmten Hierarchie und einer nicht zufälligen Reihenfolge zu tun. Man könnte sechs Mo-mente unterscheiden, die besonders wichtig sind und ihre – sagen wir mal – » natür-liche « Folge im Verlauf der Erzählung (oder der Dramatik) eines invarianten Le-benslaufs haben.(1) Moment der Übernahme des Erbes. Übernahme mit der » Rechtswohltat des In-ventars « – wie es Juristen zu formulieren pflegen. Das Erbe wird zu eigen gemacht, zu einem gewissen Grade unkritisch betrachtet. Es bildet zugleich das spezifische » Gut « und funktioniert als Arche. Es entscheidet über die Verwurzelung des Künst-lers in einem bestimmten Kulturkreis.(2) Moment der ersten Faszination, d. h. der Begeisterung für ein neues, anders-artiges, anziehendes, attraktives Phänomen. Eine spezifische » Liebe auf den ersten Blick « , eben durch diese Andersartigkeit hervorgerufen und die darauffolgende » Kristallisierung des Ideals « . Gemeint ist hier der bildhafte, von Stendal in seinem bekannten Essay Über die Liebe 5 eingeführte Begriff.(3) Moment des Widerspruchs und Aufstands, als Eintritt in die Sturm und Drang-Periode. Wie schon längst bemerkt, findet der Aufstand gegen Determinierungen und Beschränkungen im gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen Bereich, der zu Lebzeiten Herders, Bürgers, des jungen Goethe und Schiller die Romantik antizipierte und seinen Ausdruck nicht selten auch in einem individuellen Lebens-4 Vgl. Claude Levi-Strauss: Antropologia strukturalna [Strukturale Anthropologie], Warszawa 1970; Wladimir Propp: Morfologia bajki [Morphologie des Märchens], Warszawa 1976; Algirdas Greimas: La semantique structurale, Paris 1966. 5 Stendal (Henri Beyle): De l ´ amour, Paris 1822.