Knotenpunkte im Leben und Schaffen eines Künstlers 497 (5) Die Phase des späten Schaffens, am häufigsten durch den kritischen Moment der existentiellen Bedrohung determiniert. Der Schattenstreifen, als katharsis-Moment bedeutete Erschütterung und Entsühnung. Lässt sein eigenes Werk aus einer ande-ren Perspektive sehen, es von allen inneren und äußeren Beschränkungen befreien, überflüssige Mittel reduzieren, zu neuen greifen. Phase, die durch die Neigung zum Autobiographischen, zur Vergeistigung und Bevorzugung der pantheistischen, phi-losophischen und sakralen Thematik gekennzeichnet wird. Nota bene bildet das spä-te Werk Beethovens, Schuberts und Chopins seit gewisser Zeit einen spezifischen, stetigen Gegenstand des musikwissenschaftlichen Interesses.10 (6) Zum Schluss: Die Phase des letzten Schaffens. Oft geht dieser Phase der Mo-ment einer stark empfundenen Einsamkeit 11 voraus, die paradoxerweise durch das Bewusstsein der Befreiung 12 begleitet wird. Vertiefung in sich selbst, Loslösung von der unmittelbaren Realität, wankende und desintegrierte Phantasie, Rückkehr zu den Quellen, Hinauseilen in die Sphäre der lediglich geahnten Möglichkeiten. Das Werk hat einen soliloqualen Abschiedscharakter, fast testamentarisch. Man braucht nur an die » Vier erste Gesänge « von Brahms oder an die » Vier letzten Lieder « von R. Strauss zu erinnern. Zu Wort kommen mystische und metaphysische Akzente. Das deutlich Fragmentarische des Werkes wird durch die Einheit und Kohärenz auf einer über-materiellen (wenn nicht gar einer werkübergreifenden Ebene) wettge-macht.4.So entsteht für uns die Frage, die sich nicht vermeiden lässt: was passiert, wenn der gemeinte Schöpfer nicht mit dem Moment konfrontiert wird, der ihm den Weg zu der nächsten Phase in seinem Schaffen öffnen sollte? Ich meine hier Umstände, wo z. B. statt des Aufstands vom Sturm und Drang-Charakter – der unentbehrlich scheint, um in die Phase des reifen Schaffens überzugehen – ein Moment der Erge-bung kommt, wo der Künstler auf alte, längst bestehende Abhängigkeit und Faszi-nation angewiesen wird. Oder, wenn statt des » Schattenstreifens « , der existentielle Bedrohungen mit sich bringt, die erst überwunden werden müssen, eine übermäßig 10 Vgl. z. B. Theodor W. Adorno: Spätstil Beethovens, in: Moments musicaux, Frankfurt a. M. 1964;Harry Goldschmidt: Der späte Beethoven. Versuch einer Standortbestimmung, in: Beethoven-Studien I, Leipzig 1974; Maria Piotrowska: » Późny Chopin « . Uwagi o dziełach ostatnich [Der späte Chopin. Bemerkungen zu den letzten Werken], in: Maciej Gołąb (Red.): Przemiany stylu Chopina [Wandlun -gen des Chopinschen Stils], Kraków 1993.11 Eine Notiz Schuberts in seinem Tagebuch vom 27.03.1824: » {Es gibt] niemanden, der die Trauer des Anderen, seine Freude verstehen könnte. Wir glauben nur daran, kommen aneinander, dann gehen wir aber vorbei « .12 Arnold Schönberg: » In letzten paar Jahren […] versuche ich, wenn ich komponiere, alle Theorien zu vergessen und komponiere nur, wenn ich frei davon bin « , zit. nach Stefan Jarociński: Orfeusz na rozdrożu [Orpheus am Scheidewege], Warszawa 1958, S. 67. Kommentar des Autors Jarociński: » Dem ist es zu verdanken, dass sich hinter dem Gitter der Dodekaphonie ein so tragischer und zu-gleich zutiefst menschlicher Gesang abzulösen vermag, wie die Kantate » A Surviror from Warsaw « (1947)