Warum Musik keine Kunst ist 503 Aristoteles hat neben diesem Gegensatzpaar in seiner » Physik « mit den Worten φύσει (physei: von Natur) und απο τέχνης (apo technēs: ›kunstmäßig‹, ›her-gestellt‹) eine andere, aber verwandte Dichotomie benannt. Für uns ist dieses Denk-modell von Nutzen, weil es die deutsche Dichotomie von Natur und Kunst vorbe-reitet. Man muss betonen, dass im Begriff der τέχνη für Aristoteles ein Weg zu be -schreiten möglich wird, den νόμος nicht eröffnen kann: τέχνη kann die φύσις imi-tieren – wenn z. B. ein Hafen so gut gebaut wird, wie ein natürlicher Hafen ›φύσει‹ ist. Νόμος hat nichts mit Naturnachahmung, mithin nichts mit Mimesis zu tun.2 natura gegen sowohl ordo als auch ars Das christliche Mittelalter trägt gegenüber dem antiken Denken einen ganz anderen Aspekt bei. Seit Augustinus wird die Natur zunächst nicht mehr als das den Men-schen umgebende Vorhandene und damit als das vom Menschen Verschiedene auf-gefasst, sondern als eine Erscheinung des Waltens Gottes; in der Natur offenbart sich voluntas Dei, und es entsteht das Bild vom Buch der Natur,8 in dem die Unge-bildeten die voluntas Dei ›lesen‹ können wie die Gebildeten in der Heiligen Schrift. Alanus ab Insulis, ein Scholastiker und Zisterziensermönch im 12. Jahrhundert, hat gedichtet: » Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum « (Jede Kreatur der Welt ist uns gleichsam Buch und Bild und Spiegel).9 Diese Vor-stellung hat sich im gesamten Mittelalter gehalten – also tausend Jahre lang –, und so sagt auch Nikolaus von Cues, der im 15. Jahrhundert gelebt hat, in einer Predigt: » Die Dinge sind die Bücher der Sinne. In ihnen steht das Wollen der göttlichen Ver-nunft in sinnfälligen Bildern geschrieben « .10 Natura nicht nur als Hervorbringung, sondern als Gestalt und Erscheinung des Willens und Waltens Gottes ist dann freilich nicht mehr das, was dem Menschen als nicht menschlich gegenübersteht, sondern die Menschen können sich als Teil dieser natura begreifen, und sie tun es, indem sie weit und vielfach differenzierte Ord-nungsvorstellungen mit der Natur in Zusammenhang bringen; sehr deutlich z. B. im 13. Jahrhundert bei Bonaventura, der von einer doppelten ordinatio natualis spricht, oder bei Thomas v. Aquin, der vom ordo rerum naturalium spricht. Ord-nung ist also in der christlichen Philosophie nicht nur ein vom Menschen Hervorge-brachtes – beispielsweise in einer Gesetzesordnung oder einer Gesellschaftsordnung etc. –, sondern die Natur selbst wird als geordnet begriffen. Und nun kommt es in unserem Zusammenhang wesentlich darauf an zu verfolgen, dass die Vorstellung von der Ordnung der Natur in einem bestimmten Strang des Denkens in den Begriff des Kosmos überführt wird. Dies ist eben der Fall in denjenigen Arbeiten, die die Musik als einen wesentlichen Teil der Welt mitbedenken, also z. B. in der Spätantike bei Boethius, Cassiodor und in der Hymnendichtung des Ambrosius v. Mailand, in 8 Aurelius Augustinus: De Genesi ad litteram libri XII, ed. Migne, PL, 32, S. 219ff.9 Sogenannter » Rosenhymnus « , vgl. ed. Migne, PL 210, 579a.10 Predigten von 1430 bis 1441, in: Schriften, hrsg. von E. Hoffmann (1952), S. 317f.