506 Petra Weber Die Begründung des musikalischen Systems, des Zusammengefügtseins aus konsonanten und dissonanten Elementen zu einem spannungsvollen Ganzen von mathematischer Geordnetheit, das wir Harmonie/a nennen, ist also kosmologischer Natur, nicht ästhetischer Natur. Die Musik unterliegt nicht dem ästhetischen Willen zur imitatio naturae, und sie ist keine ars im Sinne der von Menschen hervorge-brachten Anwendung von Geschicklichkeit, Erfindungsgeist und Vorstellungskraft. Das musikalische System wird berechnet wie die Umlaufbahnen der Planeten, die Verbindung der Musik zur Natur geht über die Mathematik, also über die klare und immer gültige Ordnung der Zahlen. Musik als System hat nichts zu tun mit in der Natur vorfindlichen Formen, Materialien, Geräuschen, Farben, Aggregatzustän-den oder Bewegungen, an denen sie dann kraft mimetischer Anstrengungen etwa auch teilhätte. Musik ahmt nichts nach – sie ist keine Kunst, sondern eine Ordnung. Die Musik erhält dadurch eine ontologische Fundierung dergestalt, dass der grie-chische Musiktheoretiker Aristides Quintilianus (3. Jhdt. v. Chr.) in Περι μουσικη̃ς (Peri mousikēs) sie als ein Feld der επιστήμη (Epistēmē), also als einen Erkenntnis-gegenstand bezeichnen konnte. Diese Betrachtung der Musik hält sich bis in die Musiktheorie des 18. Jahrhunderts bei Friedrich Wilhelm Marpurg,13 und im ge-samten Mittelalter ist die Musik als quadriviales Fach neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie unterrichtet worden, also im mathematischen Kanon. Exkurs Oben habe ich die mittelalterliche, aus der Antike überlieferte musica-Vorstel-lung unvollständig zitiert. Die Parallelität von musica mundana, der Welten-musik, und musica instrumentalis, der menschengemachten Musik, wird näm-lich durch eine dritte musica gleichsam noch einmal vermittelt. Dies ist die so-genannte musica humana, worunter wir die Vorstellung der psychischen Har-monie des Menschen verstehen können. In dieser sagen wir mittleren musica kommen alle diejenigen Aspekte ins Spiel, die die heutigen sogenannten Mu-sikliebhaber überhaupt als einzige noch kennen. Nennen wir diesen Komplex von Aspekten insgesamt den affektiven Aspekt der Musik. Er spielt in unse-rem Zusammenhang keine wesentliche Rolle, aber ich möchte verhindern, dass ein Gedanke wie ›aber die Musik ist doch primär die Sprache des Ge-fühls‹ hier überhaupt Platz greifen kann. Die musica humana vermittelt das Bedeutungsfeld der Bewegung zwischen der Sphärenharmonie und der hörba-ren Musik, indem sie die innere Bewegung des Menschen benennt – diese Be -wegung kann man spüren, also empfinden (αισθάνομαι; aisthanomai) wie die Bewegung der musica instrumentalis, aber sie ist unhörbar wie die Bewegung der musica mundana. Ich bin der in der Literatur meines Wissen nirgends ver-tretenen, mir aber naheliegend scheinenden Auffassung, dass die innere Bewe-gung des Menschen durch das Wort motio bestens ausgedrückt werden kann und über die sprachliche Brücke des gleichen Wortstamms eine sinnvolle Ver-bindung zu emotio herstellt; nur über diesen begrifflichen Weg würde ich den 13 Vgl. Gunther Scholtz: Musik, in: HWPh wie Anm. 6, Bd. 6, Sp. 248 m. Anm. 29 u. 30.