Warum Musik keine Kunst ist 507 affektiven Aspekt der Musik, also das, was ein Laie den ›emotionalen Gehalt‹ der Musik nennt, erreichen wollen. Es geht nicht und nie um Herzensergüsse, sondern um Bewegung und Bewegtheit, die innerlich und äußerlich, das heißt musikalisch, sich gleichermaßen ereignet. Bekanntlich hat dieser Aspekt ganze Ethos-Lehren nach sich gezogen – nicht nur bei Platon,14 sondern auch in eini-gen asiatischen Kulturen. Er ist im Laufe der Geschichte einer grauenvollen Verflachung anheimgefallen, die einen betrüblichen Tiefpunkt in der Rede von der Musik als der ›Sprache der Herzen‹ erreicht hat. Musik bewegt uns, weil sie selbst Bewegung ist und weil wir hörend gar nicht anders können als diese Bewegung in uns einzulassen. Athanasius Kircher, Gottfried Wilhelm Leibniz, Andreas Werckmeister und Johann Mattheson ha-ben alle von dem Nebeneinander von mathematischem und affektivem Aspekt in der Musik gesprochen, und wenn Leibniz sagt, Musik sei inneres unbewusstes Zählen,15 so meint er die Zahl als Ordnungsfaktor der Harmo-nia, des Tonsystems, ebenso, wie das Abzählen eines konkreten zeitlich-musikalischen Verlaufs nach seiner harmonischen und rhythmischen Gliede-rung. Diese zweite Seite des inneren unbewussten Zählens ist die menschliche, innerlich fühlbare motio/emotio. So kommt die Vorstellung zustande, es finde eine (menschlich-selbsttätige, also vom Subjekt hervorgebrachte und damit von uns als ›subjektiv‹ apostrophierte) Gefühlsregung statt, wo es um das Mit-vollziehen einer (nicht vom Subjekt hervorgebrachten, sondern an es herange-tragenen, nämlich musikalischen) Bewegung im Inneren des Subjekts geht. Leibniz beschreibt ja auch gerade in der Formulierung, dass der Geist seiner selbst unbewußt ist (» nescientis se… animi « ), den Aspekt, dass das Subjekt nicht aktiv ist, obwohl es zählt – oder vielleicht besser: weil ›es‹ in ihm zählt.3 Natur gegen Kunst Es ist klar, dass in dem Moment, in dem die Musik als eine unter ›den Künsten‹ auf-gefasst wird, sie in einem defizitären Licht gegenüber etwa der Malerei, der Skulp-tur und speziell der Literatur erscheinen muss, weil sie keine Inhalte transportiert. Musik hat keinen Platz in der Mimesis-Theorie, weil sie ja in dem gerade erläuterten Sinn viel eher selbst Natur ist, als dass sie Natur nachahmte. Musik hat nichts mit Natur im Sinne der res naturales zu tun, sondern sie ist selbst Natur im Sinne von Ordnung und Weltordnung.Wie kann es dann überhaupt dazu kommen, dass wir die Musik eine Kunst nen-nen? Hier können wir nun, scheint mir, den wichtigsten Grund für das Missver-14 Vgl. Dénes Zoltai: Ethos und Affekt. Geschichte der philosophischen Musikästhetik von den Anfän-gen bis zu Hegel, Budapest 1970.15 » Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi « in einem Brief an Gold -bach vom 17.4.1712; vgl. Rudolf Haase: Art. » Leibniz « , in: MGG1, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 8, Sp. 498–503, hier 500.