508 Petra Weber ständnis, das der Musik in toto seit etwa dreihundert Jahren zugemutet wird, fas-sen: Denn eigentlich können wir, wie gezeigt, nicht die Musik eine Kunst nennen, sondern was wir mit dem Stichwort Kunst benennen, ist die Komposition. Die Kom-position bringt musikalische Artefakte hervor, die wir durchaus in Parallele setzen können zu einem literarischen Artefakt, z. B. einem Gedicht, wie zu einem maleri-schen Artefakt, dem Bild. Allen diesen Artefakten ist gemeinsam, dass sie von ei -nem Autor hervorgebracht wurden, im Allgemeinen vom Künstlerwillen für fertig oder vollendet erklärt worden sind und in irgendeiner Weise der Öffentlichkeit aus-gesetzt werden. Im Allgemeinen sprechen wir dann von einem Kunstwerk bzw. ei-nem Werk. Während aber Literatur und Bildende Kunst ein Stück Welt zum Gegen-stand haben,16 betreibt die Komposition eine Art Nabelschau: jede Komposition setzt unter vielfältig bestimmten Bedingungen jeweils bestimmte Gesetze des Ton-systems in Klang. Das Stück Welt ist kein Gegenstand der Komposition, weil die Komposition ja stets auf die Totalität ihrer eigenen Welt zurückbezogen ist. Daher gibt es keinen Bezug in die Welt der res naturales.Die ästhetische Literatur bestätigt dies auf ganzer Linie: Selbstverständlich steht bei Baumgarten das Artefakt im Mittelpunkt der Argumentation, das Kunstwerk, das vom » schönen Geist « hervorgebracht wird.17 Dabei geht es in dieser Frühzeit der Ästhetik um eine Alternative zur Weltbetrachtung, wie sie die Philosophie be-reitstellt, und um eine Ergänzung zur logischen Wissenschaft. Baumgarten kann sa-gen: « natura… et poeta producunt similia « .18 Die » Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis « tritt zur Logik als der » Wissenschaft von der Lenkung des Erkenntnis-vermögens zur Erkenntnis der Wahrheit « hinzu.19 Kunst übernimmt bei Baumgar-ten » ästhetisch die Vergegenwärtigung der sonst metaphysisch begriffenen Welt […] ›Schön‹ ist einmal die Kennzeichnung der Fähigkeit, empfindend und fühlend von dem, was ist, angerührt zu werden und Rührung und Empfindung des Herzens hervorzurufen « .20 Hier finden sich die Deutungsmuster versammelt, die, auf Dich-tung und Kunst (als Bildende Kunst) gemünzt, der Komposition die seither übliche Schieflage aufoktroyieren: die Komposition als eine stumme, nur unter größerer in-terpretatorischer Anstrengung aus ihrer defizitären, weil nicht mimetischen Situa-tion zu befreiende Kunst – ein Begriff, der seit Baumgarten eben den Anspruch der Weltbetrachtung und -deutung in Parallele zur Philosophie impliziert.21 Da aber die 16 Ich habe den Eindruck, dass auch sogenannte abstrakte Bildende Kunst jedenfalls überwiegend im Selbstverständnis der Künstler an der Welt der res naturales teilhaben möchte. Wie weit dies gelingt und was negativen Falls zu bedenken wäre, ist hier nicht zu erörtern.17 Vgl. Joachim Ritter: Ästhetik, in: HWPh wie Anm. 6, Bd. 1, Sp. 555–580, hier bes. Sp. 558. Der » schöne Geist « ist ingenium, Genie und damit in einer ausgezeichneten Weise Schöpfer von Kunstwerken.18 Zit. nach Joachim Ritter: Ästhetik, wie Anm. 17, Sp. 559.19 Ebd., Sp. 556.20 So Ritters Formulierung ebd., Sp. 558.21 Vollends befestigt sich diese Selbstverständlichkeit, wenn Kant in der » Kritik der Urteilskraft « das Schöne als » Symbol des sittlich-Guten « betrachtet, das dem » Begriffe, den nur die Vernunft den-ken … kann « , eine sinnliche Anschauung » unterlegt « : KU, 1. Teil, 2. Abschnitt, § 59 » Von der Schön -heit als Symbol der Sittlichkeit « , in: Kant’s gesammelte Werke, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, Berlin 1913, S. 351ff., hier S. 353.