Warum Musik keine Kunst ist 509 künstlerischen Betätigungsfelder für den Philosophen Baumgarten mit einer gewis-sen Systematik alle und alle gleichmäßig benannt werden sollen, spricht er – übri-gens wie alle Philosophen, die sich mit der Ästhetik beschäftigen – von ›der‹ Kunst, ›der‹ Literatur und eben auch ›der‹ Musik.22 Was jedoch bei Bildender Kunst und Literatur – auf je unterschiedliche Weise, doch vergleichbar – sinnvoll ist, versagt den argumentatorischen Dienst in Bezug auf die Musik: die » Vergegenwärtigung der sonst metaphysisch begriffenen Welt « gelingt eben nicht auf allen Betätigungsfeldern ›der Kunst‹ – Abbild, Schrift und Sprache sind Mittel zur Konstruktion (Interpretation) der Welt; Quinten hingegen können nicht Welt konstruieren.23 Da aber das Komponieren einen der Bildenden Kunst und der Literatur vergleichbaren Ort im strukturellen Ganzen der Ästhetik innehaben soll, weil es, wie oben gesagt, ebenso wie jene Artefakte herstellt mit al -len Implikationen, die dies mit sich bringt, wird die Aufgabe der Betätigungsfelder der sprachlichen und der bildenden Kunstwerke, nämlich Inhalte darzubieten und auf diese Weise an der Welt der res naturales teilzuhaben, auch auf das Betäti-gungsfeld der Komposition übertragen – ein folgenreicher ›Irrtum‹. In der histori-schen Realität von Ästhetik und Kunstgeschichte, Literaturgeschichte und Musikge-schichte – in ihrem faktischen Verlauf und Selbstverständnis ebenso wie in ihrer Ei-genschaft als theoretischen Disziplinen – hat Baumgartens Anschauungsform ›der‹ Künste im Pluralis generalis gründlich und meines Erachtens durchaus problema-tisch Schule gemacht.24 Die Ästhetik beschäftigt sich in ihren klassischen Texten mit dem sogenannten Kunstschönen. Wir haben daher zum Schluss noch einen kleinen Blick auf den Be-griff des Schönen im Zusammenhang mit der Musik zu werfen. – Im Jahre 1899 er -schien Band 9 des Deutschen Wörterbuchs, begonnen von Jacob und Wilhelm Grimm. Die Bearbeitung des Stichworts ›schön‹ kann bei dieser Jahreszahl noch 22 Im Sinne des soeben Gesagten ist festzuhalten, dass wir es hierbei de facto keineswegs mit einer gleichmäßigen Nennung künstlerischer Betätigungsfelder zu tun haben, weil die Begriffe » Literatur « und » (Bildende) Kunst « bereits Erscheinungsformen ihrer jeweiligen Grundlagen benennen: Literatur ist künstlerisch geformte Sprache, Bildende Kunst ist künstlerisch geformte Farbe, Linie und Fläche. Demzufolge wäre von der Komposition – bei Baumgarten geht es selbstverständlich nur um Kunst in Werkgestalt – als der künstlerisch geformten Erscheinungsweise von Musik zu sprechen.23 – und übrigens Fensterfassaden, Säulenordnungen und Dachkonstruktionen ebenfalls nicht. Aber Architektur ist in die Welt der res naturales derart eng funktional eingebunden, dass wir sie über -haupt nur auf der Basis ihrer Funktionalität wahrnehmen und ihr damit gleichsam die Last, etwas bedeuten zu sollen, gar nicht auferlegen. Verweist sie dann auf etwas außer ihr Liegendes (ein Haus, das aussieht wie ein Schiff, eine Kirche, die an ein Nomadenzelt erinnert etc.), nehmen wir das als ein überschüssiges Merkmal, als bloße Allusion zur Kenntnis.24 Hegel hat immerhin insofern gegen eine allzu kurz zielende Nachahmungsaufgabe der Musik Stel -lung bezogen, als er die » Aufgabe der Musik darin [sieht], daß sie jedweden Inhalt nicht so für den Geist macht, wie dieser Inhalt als allgemeine Vorstellung im Bewußtsein liegt oder als bestimmte äu-ßere Gestalt für die Anschauung schon vorhanden ist oder durch die Kunst seine gemäßere Erschei-nung erhält, sondern in der Weise, in welcher er in der Sphäre der subjektiven Innerlichkeit lebendig wird.« [Kursiva im Originaltext] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik, Dritter Teil, III. Abschnitt. 2. Kapitel, Abschnitt b » Musikalische Auffassung des Inhalts « , hier zit. nach: Wer-ke in 20 Bänden, a. d. Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 15, S. 149.