514 Rainer Wehinger werden könnten. Ich begann mit der Entwicklung meines ersten Komponier-programmes, Projekt 1, das nun etwa 20 Jahre alt ist und zur Komposition vie-ler Werke verwendet wurde. Projekt 1 sollte in erster Linie dem Wunsch nach Formvarianten Rechnung tragen. Formvarianten sind keine offenen oder va-riablen Formen, sondern Varianten einer Ausgangslage, die algorithmisch be-schrieben wird und – vergleichbar einer noch nicht in Einzelheiten ausgeführ -ten Idee – die vorweggenommene Generalisierung aller nachfolgenden Kon-kretisierungen darstellt. Projekt 1 war, als Ganzes betrachtet, eine solche Aus-gangslage. Die dem Programm zugrunde liegende Strategie sollte allgemein genug sein, um eine große Anzahl Varianten herauszubringen, aber auch spe-zifisch genug, um jeder einzelnen Varianten die Züge eines individuellen Werks einschreiben zu können.Die Frage nach der Genesis der musikalischen Form stellt sich hier in neuarti-ger Weise. […] Hier, bei der » Variantenform « , tritt sie gewissermaßen in das Dunkel der Variantenerschaffung zurück, bleibt als Algorithmus aber luzide, einsichtig, reproduzierbar. Sie existiert weder bloß als Idee, noch als konkrete Ausführung, sie zeigt vielmehr das Bildungsgesetz auf, nach dem die Elemente der von ihr abgeleiteten Konkretisierungen miteinander zusammenhängen.4 Der Einbezug von Zufallsprozessen in ein konsequent durchorganisiertes System le-gitimiert sich aus der Erkenntnis, dass in bestimmten Situationen die Wahrneh-mung nicht imstande ist, zwischen Permutation und Zufallsfolge zu unterscheiden:Projekt 1 fußt auf Erkenntnissen der seriellen Kompositionstechnik und dient dem Zweck, die zufallsbedingten Konstellationen von Parameterwerten expe-rimentell zu erfahren. Der Zufall nimmt hier den Platz von Permutationen ein, denen die Reihen im seriellen Verfahren unterworfen zu werden pflegen und deren Konsequenzen für die resultierenden Materialkonstellationen kaum vor-hersehbarer sind als bei Zufallsmanipulationen. Wie die serielle Technik rasch den » punktuellen « Stil verließ um das Ordnungsprinzip auf vorgeformte Ein-heiten, » Gruppen « , anzuwenden, so wird auch bei Projekt 1 vorausgesetzt, dass die Unvorhersehbarkeit des Zufalls von gegebenen Materiallisten und ge-eigneter Auswahl von Listenelementen neutralisiert wird, um die Bildung mittlerer und größerer Formkategorien zu ermöglichen.5 » Gruppenkomposition « schien um 1955 die Lösung, sich aus der festgefahrenen » punktuellen « seriellen Musik zu befreien: Die Komponisten begaben sich auf die Suche nach in größeren Formeinheiten wahrnehmbaren Eigenschaften, die sich kon-struktiv gestalten ließen. Koenig interessierten die Unterschiede zwischen regelmä-4 Ders.: Genesis der Form unter technischen Bedingungen. 1986, in: Ästhetische Praxis 3 (1993), S. 284.5 Ders.: Programmierte Musik. 1985, in: Ästhetische Praxis 3 (1993), S. 272.