516 Rainer Wehinger weglichkeit (Wiederholung) bis zur Auflösung (dem eigentlich seriellen Fall) in mehreren Stufen.8 Projekt 1 ist kein komponierender Automat. Es erfordert die Imagination eines kom-positorischen ›Ziels‹ und eine Vorstellung davon, mit welchem Material dieses Ziel erreicht werden kann. Das Material – Töne, Rhythmen, Farben – muss dem Compu-ter übermittelt werden, bevor er diese » Daten « mit seinem Regelwerk » verarbeiten « kann. Diese Kompositionsregeln formulieren dabei auch Aktionsbereiche, in denen der Zufall (» aleatorischer « ebenso wie » serieller « ) walten darf:Projekt 1 visiert somit eine » ideale « Komposition an, die erst nach unzähligen Anwendungen sich ganz enthüllt. Dem Programm liegt eine kompositions-theoretische Annahme, eine Strategie, zugrunde, die in der einzelnen Kompo-sition verdeckt bleibt; das Programm kann sein Potential nicht selbst beweisen. Daraus resultiert die Schwierigkeit seiner Benutzung. Erstens bedarf es einiger Eingabedaten, deren Umfang und Bedeutung im Zuge mehrerer Programm-versionen zugenommen hat. Die Eingabedaten lassen sich ohne die Vorstel-lung eines Ziels (das selbst mit mehreren Programmläufen nicht mit Sicherheit erreicht wird) nicht sinnvoll formulieren. Zweitens bedürfen die ausgegebe-nen Daten der » Interpretation « , d. h. einer Analyse im Licht der Zielvorstel-lung und der Programmlogik; es versteht sich, daß die Zielvorstellung im Zuge der Interpretation modifiziert wird. Drittens schwebt dem Programm eine » ideale « Komposition nur vor, sie wird in seiner Logik nirgends manifest. Es obliegt dem Komponisten daher, seine Zielvorstellung auf mehrere Pro-grammläufe, womöglich mit unterschiedlichen Eingabedaten, zu verteilen.Im Gegensatz zu anderen komponierenden Programmen ist Projekt 1 weder ein Baukasten noch eine Unterprogrammbibliothek. Selbst die kürzeste von ihm erzeugte » Partitur « erhebt den Anspruch, als korrekte (wenn auch be-schränkte) Anwendung korrekter (wenn auch beschränkter) Daten einen (wenn auch beschränkten) musikalischen Zusammenhang zu konstituieren […].Trotz der Variabilität hinsichtlich Ensemble-Umfang, Harmonik-Bausteinen, Zeitwerten, Akkordgrößen, Registern und Dynamikwerten bleiben die Ein-gabedaten auf ein einziges Strategiemodell bezogen, das den Formsinn in der Vermittlung von regelmäßigen und unregelmäßigen Abläufen zu erfüllen sucht.9 Das Programm war zwischen zwei Polen ausgespannt: der Rhythmik, die ich fast ganz dem Programm-Benutzer überließ, und der Harmonik, die ich gegen 8 Ders.: Umgang mit Projekt 1, S. 334 (s. Anm. 3).9 Gottfried Michael Koenig: Über meine Projekte 1 und 2. 1990, in: Ästhetische Praxis 3 (1993), S. 354.