518 Rainer Wehinger Wie wir gesehen haben, stellt das Projekt 1-Programm eine Kombination von Kompositionsregeln dar, die nur geringfügig vom Benutzer hinsichtlich der Länge der Partitur und der Dauernwerte modifiziert werden kann. Die Wahl der einzelnen Parameterwerte unterliegt entweder dem aleatorischen Zufall (Zufallswahl ohne weitere Kontrolle innerhalb gegebener Grenzen) oder dem seriellen Zufall (Zufallswahl mit Wiederholungskontrolle innerhalb gegebener Grenzen, so daß vollständige » Reihen « entstehen).11 Ergebnis eines Rechenvorgangs sind Daten, die dem abstrakt eingegebenen Mate-rial musikalische Ausformung geben sollen: eine Festlegung von Klangeigenschaf-ten, ein rhythmisches und dynamisches Profil, unterschiedliche Strukturverläufe. Diese Ausformung gehört aber nicht mehr zum Funktionsumfang des Programms, vielmehr sollen Gestaltungsräume freigehalten werden, die dem Komponisten er-lauben, dem Werk eine individuelle stilistische Prägung zu verleihen. Koenig be-schreibt den Arbeitsprozess:Die Problemstellung in Projekt 1 kann mit dem Begriff der ›Interpretation‹ um-schrieben werden: Damit ist die Bewertung der vom Programm erzeugten ta-bellarischen Partitur durch den Komponisten ebenso gemeint wie die Bewer-tung der Kompositionsidee, ehe sie mit einem Computerprogramm bearbeitet werden kann. Projekt 1 fixiert damit zwei Schritte in einem Prozeß, der von der Material- und Formplanung über Partiturskizze, Ausarbeitung, Revision, Aufführung bis zur Perzeption durch den Hörer reicht. Es handelt sich um einen ersten Schritt von der Idee zur Planung und einen zweiten von der Parti -turskizze zur Ausführung. Planung und Ausarbeitung werden ebenso wie die Aufführung der Partitur oder die Auffassung beim Hören als Stadien bei der Gestaltung eines ästhetischen Objektes betrachtet. Es sind dies die Schritte, die schon die serielle Theorie zu formulieren unternahm. Die den Zufall neutrali-sierende Materialstruktur entsteht in Projekt 1 durch interne und externe Fak-toren.12 Wir können den Kompositionsprozeß mit Projekt 1 in drei Phasen zerlegen. In der ersten Phase definiert der Komponist sein Material: das sind Instrumente, Zeitwerte, Richtlinien für die Harmonik, Oktavlagen und Lautstärken. Das sind aber auch Anzahl der Teilstrukturen (Sektionen genannt) und ihre Cha-rakterisierung, die in sieben Graden der Regelmäßigkeit (bzw. Unregelmäßig-keit) der Faktur beschrieben werden kann. – In der zweiten Phase komponiert das Programm die gewünschte Anzahl Sektionen mit den vorgeschriebenen Charakterisierungen aufgrund der definierten Einzelwerte. Das Resultat wird in Tabellenform ausgedruckt. Die dritte Phase ist erforderlich, um die tabel -11 Gottfried Michael Koenig: Erfahrungen mit programmierter Musik. 1975, in: Ästhetische Praxis 3 (1993), S. 177.12 Ders.: Programmierte Musik, S. 272 (s. Anm. 5).