534 Rainer Wehinger Nur zwei Jahre (1966–1968) nach der Arbeit an Projekt 1 entwickelt Koenig sein zweites Computerprogramm Projekt 2. Obwohl als Weiterentwicklung geplant, als Reaktion auf die begrenzten Eingriffsmöglichkeiten der ursprünglichen Projekt 1-Version, weist es doch gravierende konzeptionelle Unterschiede auf: Wie in Pro-jekt 1 sind Akkordfolgen die Grundelemente, doch können diese überlagert, poly-phon gestaltet werden. Zusätzlich zu den periodischen und aperiodischen Zyklen von Projekt 1 können weitere strukturgebende Algorithmen verwendet werden, so z. B. » Tendency « , was kontinuierlich verändernde Parameterfortschreitungen er-laubt. Parameter können hierarchisch behandelt werden, um Kollisionen bei Über-lagerungen zu vermeiden. Die Eingabedaten der Parameter können wesentlich dif-ferenzierter bestimmt werden, was zu einem Fragenkatalog von 65 Fragen führt. Im Gegensatz zu Projekt 2 erzeugt Projekt 1 mit – auch in der aktuellen Fassung – ver-hältnismäßig wenig Input im Prinzip ein » ganzes Stück « , das in Teilen abstrakt und unvollständig und deshalb offen ist für Interpretation. Dies wird durch die Formab-schnitte deutlich, die durch die Kombination der Prozesszahlen unterschiedlich ge-prägt sind. Projekt 2 kennt keine solchen Formabschnitte, Koenig spricht deshalb von » Varianten « . Da die Kompositionsregeln nicht fest vorgegeben sind, sondern aus den Eingabedaten abgeleitet werden, da also die kompositorischen Entschei-dungen fast vollständig in die Phase der Dateneingabe fallen, ist das Ergebnis nicht mehr offen für eine Interpretation.Mit Projekt 2 entstehen die Kompositionen » Übung « für Klavier (1969/70), » 60 Blätter « für Streichtrio (1992) und » Concerti e Corali « für Kammerensemble (1992).Die Entwicklung und der Einsatz von Projekt 2 laufen parallel zum Einsatz von Projekt 1. Projekt 2 löst demnach Projekt 1 nicht als » überholt « ab, im Gegenteil: Fast mag der Eindruck entstehen, als wirke Projekt 1 inspirierender, » zeitlos « : » So zeigt sich, daß kompositorisches und theoretisches Denken dann nicht veraltet, wenn es sich durch Abstraktion und Verallgemeinerung den Bereich des » offen « Interpre-tierbaren freigehalten hat; die » Ideen « (im Sinne Platons) mögen die ewig gleichen sein, ihre Formulierungen und Interpretationen erscheinen jedoch zu jeder Zeit an-ders.« 25 Werke anderer Komponisten Projekt 1, ursprünglich nur zur Komposition eines einzigen, wenngleich in vielen Varianten existierenden Stückes gedacht – und zur Verwendung nur durch den Komponisten selbst –, erweist sich, ebenso wie Projekt 2, bald als geeignetes Objekt, im Unterricht und in Kursen kompositorische Probleme zu diskutieren. Und ob-wohl es stilistisch von Koenigs Musikdenken nicht zu trennen ist, zieht es auch an-dere Komponisten in seinen Bann.25 Karlheinz Essl: Zufall und Notwendigkeit. Anmerkungen zu Gottfried Michael Koenigs Streich-quartett 1959 vor dem Hintergrund seiner kompositionstheoretischen Überlegungen, in: Musik-Kon-zepte 66, hrsg. von H.-K. Metzger und R. Riehn, München 1989, S. 76.