556 Gerhard J. Winkler Zweifellos sind Scherings Tafeln künstlich und der darauf dargestellte historische Entwicklungsgang fiktiv, da er sich auf keine konkreten Beispiele bezieht. Dazu kann die Beobachtung Martin Vogels nur bestätigt werden, dass zwischen den Sta-dien 6 und 7 » eine merkliche Zäsur festzustellen ist, wie sie in dieser Schärfe zwi-schen den anderen Beispielen nicht zu beobachten « sei, denn in Stadium 7 trete zum ersten Mal der Tristan-Klang auf.4 In der folgenden Studie soll der Versuch gemacht werden, in die weite Lücke zwischen der phrygischen Kadenz und dem Tristan-Ak-kord 5 ein historisches Kadenzmodell einzusetzen, das nicht nur der Retorte der Harmonielehre entsprungen ist, sondern auch in der ›freien Natur‹ des klassischen Repertoires gesichtet werden kann.II.In seiner des wissenschaftssatirischen Humors nicht entbehrenden Studie zum Tri-stan-Akkord im Medium der Harald-Schmidt-Show 6 hat Hartmuth Kinzler in Mo-zarts großer g-Moll-Symphonie eine der historischen » Vorstufen « -Bildungen zum Tristan-Akkord ausgemacht:Die Takte 14 und 15 des ersten Satzes von Mozarts G-Moll-Symphonie KV 550. Die Streicher spielen in Takt 14 die Töne E-e-b-d1-d2, zu dem die Bläser ein g-g1-g2 (sowie frei einsetzende Fis-Vorhalte) hinzufügen, in Takt 15 lauten die Töne Es-es-g-cis1-cis2, während die Bläser ihr g-g1-g2 stufenweise über a-a1-a2 nach b-b1-b2 geführt haben. Der tonartliche Bezug ist analog zum Beethoven-Beispiel eine Lösung nach D-Dur […].7 Es handelt sich also um jene Stelle, die den Hauptsatz des ersten Themas beschließt:Notenbeispiel 2 4 Martin Vogel: Der Tristan-Akkord und die Krise der modernen Harmonielehre (= Orpheus-Schriften-reihe zu Grundfragen der Musik Band 2), Düsseldorf 1962, S. 86–87.5 » Wie wenig übrigens der Fauxbourdon-Stil zum Tristan-Stil passt, lässt sich dem von Schering er-gänzten ersten Takt des Tristan-Akkords entnehmen « ; ebd., S. 87. 6 Hartmuth Kinzler: Der Tristan-Akkord und seine Behandlung in der Harald-Schmidt-Show unter be-sonderer Berücksichtigung der Differenzen von stufentheoretischer und funktionellharmonischer Be-trachtungsweise -- und ein bißchen Adorno ist auch dabei, in: Vermittelte Musik. Freundesgabe für Walter Heise zur Emeritierung, hrsg. v. Hartmuth Kinzler (= Schriftenreihe des Fachbereichs Erzie -hungs- und Kulturwissenschaften Band 17), Osnabrück 2001, S. 218–248.7 Ebd., S. 242.