Postludium 577 analytische Genauigkeit ist beispiellos, seine dabei gemachten Erkenntnisse sind es ebenfalls. Ihm zur Seite werde ich den nagenden Minderwertigkeitskomplex meiner wissenschaftlichen Fahrlässigkeit nicht los, konnte aber immer gut damit leben. Auch stelle ich fest, dass wir beide unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie kostbares Wissen zu schaffen sei, für wen und warum. In jener analytischen Champions League, wo er spielt, gibt es wohl nur wenige, die seine geschickt aus-getüftelten Vorlagen treffsicher ins Tor bringen. Mit anderen Worten: er enträtselt die Geheimnisse der Musik für wenige Erlauchte, höchstwahrscheinlich gar nur für sich selbst … eine höchst seltene Autismus-Variante. Deswegen rücke ich ihn, rech-tens oder leichtfertig, in die esoterische Ecke der Formalanalytiker; jener Berufenen, die in die Tiefenschichten komplexer Notentexturen mit archäologischer Geduld und Gründlichkeit vordringen, um Schätze zu heben von philologischer Gültigkeit. Ob das aber jenes Wissen schafft für die vielen Laien, die solchen Wissens dringend bedürftig sind, bleibe eine offene Frage. Es müsse, so denke ich mir, eine andere Form der Analyse ersatzweise einspringen … eine, die sich der leicht verständlichen Ergründung des musikalischen Ausdrucks widmete; eine fürs intellektuelle Fuß-volk, das immer schon mal wissen wollte, warum Schubert ein Es-Dur-Trio ge-schrieben habe oder Chopin eine h-Moll-Sonate und auf welchem Kartoffelacker solche Kunstwerke gewachsen seien. Dazu braucht es metaphorische Phantasie und den Mut zur analytischen Weichzeichnung, um die Bildlichkeit musikalischer Phy-siognomien für unkundige Menschen sicht- bzw. hörbar zu machen. Kinzlers atem-beraubend kühne Analysen klären, warum ein Kunstwerk so ist, wie es ist. Ich hin-gegen meine, auch die Frage, woher und wieso es auf die Welt gekommen sei, wäre dieser anderen Begrifflichkeit von Wissenschaft aufgegeben – Werk versus Entste-hung, Geschichte versus Geschichten, die alte Streitfrage. Kinzler ist und bleibt der Star-Anwalt des Kunstanspruchs von Musik, ich hingegen vertrete, gewissermaßen als Pflichtverteidiger, den Anspruch einfacher Menschen auf ein erstbegegnendes Verstehen von Musik, und sei es zunächst in vagen Umrissen. Die beiden Diosku-ren Castor Kinzler und Pollux Schmidt-Banse, das unverbrüchliche Freundespaar … analysierend der eine, fabulierend der andere. Von ihm sind exakte Röntgenbilder zu erwarten, von mir nur handliche Anamnesen und bescheidene Personalauswei-se. In diesem Spannungsfeld haben wir jahrzehntelang spannend gelebt ohne die üblichen und betrüblichen Spannungen einer abgrenzenden akademischen Eitel-keit. Vor dieser, seiner feinen, zurückhaltenden und geschliffenen, weder den Kolle-gen noch den Studierenden verletzenden Brillanz des Denkens verneige ich mich in Hochachtung und Dankbarkeit. Sie hat der Musik gutgetan, der Reputation des Fa-ches und erst recht uns allen. Ich fürchte, mit ihm nimmt jetzt ein ganz besonderer Typ Professor seinen Abschied, beklagenswerterweise. Mir bleibt er gottlob erhal-ten, deswegen braucht’s keinen Nachruf, und Kartoffelsalate zählen bei uns weiter-hin zur gastronomischen Grundausstattung. Deswegen tue ich als sein Kontrapunkt, d. h. als musikologischer Märchenonkel, einmal mehr, was wir oft taten und auch künftig tun werden: einander etwas zu le-sen geben mit lange schon vereinbarter, augenzwinkernder Lust an variierender