- 100 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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lassen vielmehr den Schluß zu, daß Mahler das Militär und den darin zugrundegehenden Soldaten symbolisch erfaßte. Dazu ermöglichen die einzelnen Lieder verschiedene Interpretationen, die hier nicht im einzelnen zu entfalten sind. Grundsätzlich zieht es Mahler immer wieder zum Gegenstand des Soldaten, in dem er ein Symbol des Individuums sieht, das in der kollektiven Masse der Gesellschaft seine Freiheit und ein erträgliches Leben vollends verliert und schließlich zugrunde geht. Entscheidend im hier thematisierten Zusammenhang ist aber, daß Mahler sich die Militärsphäre für seine autobiographische Aussage heranzieht, und daß er diese Sphäre, im vollständigen Gegensatz zu seiner Zeit, ausschließlich negativ, düster, unheilvoll und schädigend für den Menschen darstellt.

Vielleicht ist hier ein Vergleich mit der Literatur zulässig, und zwar mit Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törless, der 1903 entstand und 1906 erschien, also etwa zeitgleich zu Mahlers Wunderhorn-Liedern. Dieser Roman schildert das Internatsleben und die Brutalität der Schulkameraden auf schreckliche Weise. Als eigentlicher Inhalt erweisen sich aber die psychologischen Erfahrungen, die der Protagonist Törless, worin sich Musil selbst verbirgt, in dieser Umgebung macht. Dennoch ist in jeder Phase des Handlungsfortgangs die Unerträglichkeit des Internatslebens um die Jahrhundertwende präsent. So hat dieser Roman mittelbar dazu beigetragen, daß das Schul- und Erziehungswesen Reformen erfuhr.

Trotz Mahlers unzweideutiger Demonstration des unheilvollen Gehaltes, der sich in den Wunderhorn-Texten verbirgt, wurden deren Volksliedfassungen auch nach dem Ersten und während des Zweiten Weltkrieges von Soldaten gesungen. Sie gehörten – weiterhin – zum festen Bestandteil des deutschen Soldatenlieder-Repertoires. Revelge findet sich zum Beispiel in: Das neue Soldaten-Liederbuch. Die bekanntesten und meistgesungenen Lieder unserer Wehrmacht, hrsg. v. Fr. J. Breuer. Mainz: Schott, o.J. [zw. 1938 und 1945]. Die Volkslied-Version des Straßburg-Liedes mit den Strophen 1–5 gehört zum Inhalt von: Morgen marschieren wir. Liederbuch der deutschen Soldaten. Im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht hrsg. von Leutnant Hans Baumann, Potsdam: Voggenreiter-Verlag, 1941. Auch Volksliederbücher des rechten politischen Lagers führen beide Lieder, so Walter Hensels Das aufrecht Fähnlein. Liederbuch für Studenten und Volk. Kassel 1923. Erst die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges haben einen Sinneswandel bewirkt: Im Liederbuch der Bundeswehr (1958)78

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Liederbuch der Bundeswehr, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Führungsstab der Bundeswehr I, Wolfenbüttel, Rodenkirchen und Bad Godesberg 1958.
sind beide Lieder nicht mehr vertreten.


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